Schätzungen zufolge leben rund 20 000 Kinder in Deutschland auf der Straße, 1700 davon in Berlin. Der Begriff „Karuna“ steht in der buddhistischen Lehre für aktives Mitgefühl. Diese Art des Mitgefühls lebt der gleichnamige Berliner Verein seit 30 Jahren und durch seine 2016 gegründete Genossenschaft. Hier setzen sich engagierte Menschen wie Jörg Richert (Mitgründer und Geschäftsführer), national und international für Kinder und Jugendliche in Notsituationen ein. Unter anderem auch durch das Bereitstellen der App Mokli, die gemeinsam mit ehemaligen Straßenkindern entwickelt und zweimal mit dem Google Impact Award ausgezeichnet wurde.
Hallo Jörg! Aktuell helft ihr mit der „Karuna Youth Force“ jungen und mit der „Task Force“ älteren Menschen durch die Corona-Krise, indem ihr zum Beispiel Hygiene-Kits an Obdachlose verteilt sowie Beratung und Hilfe zur Vernetzung anbietet. Aber ihr agiert auch digital. Seit 2016 mit der App Mokli, einem Hilfsportal als mobile Website. Wie kamt ihr auf die Idee?
Bei Karuna stehen Kinder und Jugendliche, aber auch obdachlose Menschen in Notsituationen im Fokus. Wir wissen, dass sich insbesondere junge Menschen souverän in der digitalen Welt bewegen und viel auf digitalen Plattformen kommunizieren. Darum wundert es nicht, dass die meisten Kinder und Jugendlichen, die aus einer für sie belastenden Situation von zu Hause weglaufen, ihr Smartphone mitnehmen.
Bleiben wir vorerst gedanklich bei diesen Kindern und Jugendlichen. Sind sie erstmal auf der Straße, weg von Zuhause, stellen sich ihnen schnell drängende Fragen: Wo kann ich übernachten, wo bekomme ich Essen, wo finde ich eine passende Beratungsstelle und wie kann ich sie kontaktieren?
All diese Informationen sind bereits bestens in Heften und Flyern zusammengefasst und liegen in vielen Beratungsstellen aus. Aber genau da ist das Problem! Denn wenn ich eines der Hefte haben möchte, muss ich wissen, wo diese Beratungsstellen sind. Mit Mokli können wir diese Info einfach liefern. Darüber hinaus hält die Hilfsplattform auch Antworten auf viele weitere drängende Fragen für Menschen in Not bereit.
Angebote zu Themen wie Essen, Schlafen, Hygiene, usw. sind in Mokli übersichtlich zusammengefasst und in verschiedenen Sprachen verfügbar. Wie nutzen Organisationen außerhalb von Karuna die Mokli-App?
Es sind mittlerweile 3500 verschiedene Initiativen mit über 9000 Einträgen gelistet. Diese Einträge sind in Kategorien wie Verpflegung, Schlafen, Ärzte, Hygiene, Beratung aufgeteilt. Hilfsorganisationen und ihre Angebote aus ganz Deutschland sind hier gelistet. Wenn sich beispielsweise Öffnungszeiten oder Telefonnummern ändern, benachrichtigen uns die Initiativen, da sie großes Interesse daran haben, bei Mokli korrekt abgebildet zu werden. So halten wir die Datenbank immer auf dem aktuellen Stand. Die Datenbank liegt bei uns und ist technisch so einfach angelegt, dass wir ohne große Mühe schnell und unkompliziert Änderungen einpflegen können.
Die App ist jetzt seit gut drei Jahren online. Wie erfolgreich ist sie?
Wir hatten im ersten Jahr ein großes Werbebudget für die Bekanntmachung der App. Da waren wir auf Plakatwänden an Bahnhöfen in ganz Deutschland. So hatten wir zum Launch 2016 rund 90 000 Zugriffe innerhalb der ersten sechs Wochen! Mittlerweile haben wir uns bei rund 9000 Zugriffen pro Quartal eingependelt – die Plattform lebt und wird gut genutzt.
Ein besonders wichtiges Tool ist unser SOS-Button. Mit dem haben wir schon mehrere Leben gerettet. Hinter dem SOS-Button steckt eine Chatfunktion. Bei Verzweiflung und in Krisensituationen ist er DER direkte Draht zu Sozialarbeiter:innen und Ehrenamtlichen. Einmal wollte ein junges Mädchen von einem Hochhaus springen, doch zuvor chattete sie noch mit einer Sozialarbeiterin, der es gelang, das Mädchen vom Sprung abzuhalten. Das ist einer dieser Momente mit echtem Gänsehautfaktor – und ein echter Erfolg!
Auch dass wir im Folgejahr zum zweiten Mal den Google Award gewonnen haben, gibt uns Rückenwind. Meines Wissens nach sind wir das erste Projekt weltweit, dem es gelungen ist, den Award zweimal hintereinander zu gewinnen. Das Preisgeld ermöglicht uns den Ausbau der App.
Das hört sich wirklich nach einer Erfolgsgeschichte an. Wo seht ihr die Grenzen eurer digitalen Hilfe?
Mit der App erreichen wir nur Menschen, die Zugang zum Internet haben. Am besten per Smartphone. Aber es gibt auch Menschen, gerade Ältere, denen dieser Zugang fehlt. Das ist ein echtes Problem. Denn genau die Menschen haben oft Hilfe am nötigsten.
Dank der Firma reBuy haben wir mittlerweile 2000 Telefone, die wir an Hilfsbedürftige weitergeben können. Allerdings ist das seit dem neuen Telekommunikationsgesetz von 2017 gar nicht so einfach. Denn hast du keinen oder keinen fälschungssicheren Ausweis (manche osteuropäische Pässe), kannst du für dein Handy weder Vertrag noch eine Prepaid-Karte bekommen. Das ist für die betroffenen Menschen eine enorme Benachteiligung. Hier brauchen wir dringend eine politische Reglung, auf die wir vermutlich noch ein paar Jahre warten müssen. Bis dahin sind wir gezwungen, Menschen in Not diese Art der Hilfe zu verwehren. Und das ist hart – für beide Seiten.
Im Frühjahr 2020 hat mich ein obdachloser Mann gefragt, ob Krieg sei, weil er niemanden mehr auf der Straße getroffen hat. Hört sich für uns erstmal komisch an. Aber er hatte keinen Zugang zu Nachrichten und wusste nichts von der Pandemie und dem Lockdown. Gerade in Zeiten der Pandemie wäre es so wertvoll, wenn wir über die Handys einen direkten Informationsfluss in beide Richtungen hinbekämen. Dafür müssten wir die Nummern samt zugehörigem Namen speichern. Mit einer flächendeckenden Vernetzung von Obdachlosen in Form von Handys – ähnlich wie es in den USA bereits üblich ist – könnten wir zum Beispiel an alle die neusten Corona-Bestimmungen per SMS verschicken.
Aber auch der Informationsfluss von den Menschen auf der Straße zu uns ist total wichtig. Wie sonst könnte sich jemand, der sich in seinem Unterschlupf versteckt hält und Anzeichen von Corona oder anderen Krankheiten hat, medizinisch beraten lassen oder Hilfe holen? Daher wollen wir demnächst anbieten, dass jeder seinen Namen und Telefonnummer freiwillig hinterlassen kann, um weiter Kontakt halten zu können.
Wie geht ihr mit dem Sammeln von User-, Bewegungs- und anderen Daten um, die bei Mokli erfasst werden?
Dazu gab es Kritik, allerdings unberechtigt. Es ärgert mich, dass sich Kritiker:innen vorab nicht besser informieren. Mokli ist mit Jugendlichen zusammen entwickelt worden, die von zu Hause weggelaufen sind und nicht von ihren Familien gefunden werden wollen. Es war allen schnell klar, dass beispielsweise Geotracking ein totales No-Go für die App ist. Also speichern wir diese Daten nicht.
Wie sehen eure Pläne für Mokli aus? Was bringt die Zukunft?
Wir arbeiten an der optimierten Version 2.0 von Mokli. Wir wollen auch ältere Menschen auf die Plattform holen. Ein spannender Punkt ist die neue Walletfunktion. Dafür haben wir die Kryptowährung „Karunis“ entwickelt. Im Berliner Pilotprojekt wollen wir noch in diesem Jahr damit ein bargeldloses Zahlungssystem testen – für einen Frisörbesuch oder den Einkauf. So können Spenden direkt in das Wallet übertragen werden. Im Anschluss können wir dann an ein nationales Roll Out denken.
Neben dem Zugang zu Hilfsplattformen und als Kommunikationsmittel bietet die Walletfunktion den Nutzer:innen eben auch Zugang zu Spenden, also Geld.
Professoren:innen, Doktorand:innen und Studierende von der Universität der Künste Berlin begleiten diesen Prozess langjährig und untersuchen dabei die Frage, wie obdachlose Menschen mobile Medien nutzen. Wichtig ist es, dass die Bedeutung eines eigenen Handys so hoch ist, dass es auch in Notsituationen nicht leichtfertig verkauft wird, um schnell an Bargeld zu kommen.
Wenn Du anderen Organisationen drei Tipps für die Entwicklung einer App geben müsstest, welche wären das?
Es gibt eigentlich nur einen. Die Idee muss richtig gut sein und eine Lösung für ein echtes Problem darstellen. Wir haben uns dafür die Expertise von Betroffenen und ehemaligen Straßenkindern geholt. Aus unseren Klient:innen sind Kolleg:innen geworden, die gemeinsam mit uns die App und ihre notwendigen Funktionen entwickelt und vorangetrieben haben. Wir waren von unserer Idee überzeugt und konnten sie deswegen auch überzeugend bei Unternehmen wie Google vorstellen. Unsere Idee war einfach gut und durchdacht. Wir wollen Stakeholder gewinnen, die den einen unternehmerischen Geist mitbringen.
Gerade der dritte Sektor neigt dazu, in eine Bittstellerhaltung zu fallen. Diese Einstellung sollten wir hinter uns lassen und uns mehr als innovative Problemlöserinnen und Ideengeber präsentieren, mit denen Unternehmen gern zusammenarbeiten wollen! Nicht aus Mitleid, sondern mit dem Spirit vom aktiven Mitgefühl.
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