Das Buch hat alles was es für einen Erfolg braucht. „Mindf*ck – Cambridge Analytica and the Plot to Break America“ ist die Erzählung eines Whistleblowers, ist ein Big-Data-Skandal, erzählt aus einer schwulen Perspektive, ist ein detailierter Einblick in Denken und Planen der global vernetzen Alt-Right-Bewegung und eine scharfsinnige Einschätzung all dessen, was schief läuft im wohl relevantesten öffentlichen Raum der modernen Gesellschaft: dem Internet. Dennoch blieb das mediale Echo zum Buch weitgehend aus.
Pinke Haare, Nasenring: Christopher Wylie ist trotz seiner Auffälligkeit wohl der am wenigsten bekannte Whistleblower.
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Politisches Engagement macht sichtbar
Als Teenager saß „Mindf*ck“-Autor Christopher Wylie wegen einer seltenen Krankheit einige Jahre im Rollstuhl. Das führte dazu, dass er sich als Pubertierender im Highschool-Alltag meist übersehen oder auf seine Unfähigkeiten reduziert fühlte. Als er im Computerclub unter IT-Nerds neue Kontakte knüpft, verbessert sich seine Situation; unter ihnen zählte nicht das Äußere, sondern die Skills im Programmieren von Webseiten oder Spielen. Doch auch Sichtbarkeit und Stimme erlangte er in dieser Zeit – in den Townhalls, den Bürgertreffs seiner kanadischen Kommune, wo er bald reges Mitglied in Debatten um Lokalpolitisches wird.
Es dauerte nicht lang, bis Parteipolitiker auf ihn aufmerksam wurden und er beide Interessen – Politik und Informatik – einte. Mit 18 Jahren nahm Christopher Wylie 2007 einen Job als politischer Berater und PR-Assistent im Parlament von Ottawa an.
Der Wahlkampf Barack Obamas inspirierte Wylie für seine strategische Beratung: Obamas Team legte erstmals einer Wahlkampagne die Auswertungen flächendeckend bezogener digitaler Daten zugrunde. Sein „Yes we can!“ war eine Mischung aus digitaler Graswurzelbewegung und strategischem Mikrotargeting. Datenanalyst:innen der Firma Voter Activation Network (VAN) scannten digitale Nutzer:innenprofile und schickten den Nutzer:innen als potentiellen Wähler:innen anschließend (digital oder anderweitig) personalisierte Werbung und politische Spots.
Graswurzel-Bewegung, virale Hits, Youtube-Kanäle, Facebook-Ads: “Yes, we can!” war die erste Wahlkampagne, die Mikrotargeting nutzte und Barack Obama 2008 den Wahlsieg brachte.
Pete Souza, The Obama-Biden Transition Project Creative Commons Attribution 3.0 Unported
Als kanadischer Wahlbeobachter und freiwilliger Helfer der Obama-Kampagne lernte er VAN und ihre Arbeit kennen: „Als ich kapiert hatte, wie effizient die Obama-Kampagne Algorithmen für die Verbreitung ihrer Botschaft einsetzte, begann ich, selbst welche zu entwickeln. Ich brachte mir Software wie MATLAB und SPSS bei, die es mir erlaubte, mit Daten herumzuspielen […]. VAN besaß eine Unmenge von Informationen über Alter, Geschlecht, Einkommen, ethnische Abstammung, Immobilienbesitz – sogar über Zeitschriftenabonnements und Vielfliegermeilen.“
2008 gewann Barack Obama die Wahl, Microtargeting war Kern seiner Kampagne. Doch trotz des nachweislichen Erfolges konnte Wylie in Kanada die Liberalen nicht von dieser modernen Form der Wahlforschung begeistern. Zu invasiv schien den Politiker:innen die Datenernte, die für Wylies Vorhaben nötig wäre.
2009 beendete Wylie sein politische Beraterarbeit in Kanada. Um Abstand zur kanadischen Politik zu bekommen, ging er 2010 nach London und studierte Jura. Doch sein Ruf holte ihn ein und bald arbeitete er nebenbei für die Liberaldemokraten Londons. Diese waren offen für die Technik von VAN und zudem weniger zimperlich, wenn es um die Beschaffung von Daten der Bürger:innen ging.
2013 schloss Wylie sein Jura-Studium ab und begann ein Modestudium mit dem Fokus auf Trendforschung. Bald darauf kam er über eine Partybekanntschaft zu einem Bewerbungsgespräch bei Alexander Nix, dem Leiter der Briefkastenfirma Strategic Communication Laboratories (SCL). Diese Firma entwickelte Strategien zur psychologischen Kriegsführung. Sie setzten dort an, wo die offizielle Einflussnahme von Regierungen enden muss.
„Wir Terrorismusbekämpfer tragen Prada“
Stilsicher und überzeugt von der guten Sache steckten Wylie und seine Programmierkolleg:innen ihr gesammeltes Wissen über Mikrotargeting, Datenernte und –auswertung in Projekte zur Bekämpfung von Drogenschmuggel in Südamerika oder Zersetzung von islamistischen Terrorzellen. Das Ziel von SCL war, so genannte Perspektizide herbeizuführen: Durch unbemerkte monatelange Einflussnahme über Chatgruppen, Messenger und Werbeprofile säten die Strateg:innen Zweifel und Zwietracht und manipulierten die Schwächsten der Gruppe, bis ihre Sicht auf die Dinge so beeinflusst war, dass sie gegen ihre eigenen Gruppen agierten, sabotierten oder meuterten.
Nach dreijähriger Investigation: Alexander Nix wird der Korruption überführt, als er einem Lockvogel erklärt, wie er andere Politiker bestach.
SCL war erfolgreich, das Ego von Chef Nix groß. Mit windigen Versprechen begeisterte er politische Wahlkampfkandidaten und begann bereits 2010, mit SCL Einfluss auf ausländische Wahlen zu nehmen. Den Lehren der psychologischen Kriegsführung folgend war es dabei aussichtsreicher, die gegnerische Partei zu schwächen, als die eigene zu stärken. Die „Do So“-Kampagne in Trinidad und Tobago ist ein anschauliches Beispiel, wie Nix und Co. dort erfolgreich Wähler:innen demotivierten und damit vom Wählen abhielten – und das noch mit vergleichsweise wenigen Daten, wenn man sich die weitere Entwicklung anschaut.
Christopher Wylie lernte bei zwei Soziologen der Universität Cambridge, wie er mit einer Umfrage und einer App Millionen Profile von Facebook-Usern für Forschung bekommen konnte – das war zu dem Zeitpunkt noch legal. Interessierte konnten einen klassischen Fragebogen als PDF oder webbasiert ausfüllen. Doch die kleine finanzielle Aufwandsentschädigung erhielten die Probanden nur, wenn sie sich in eine App mit ihrem Facebookzugang einloggten. Die App sorgte für eine reibungslose Transaktion und zog alle Profildaten der Registrierten und auch ihrer Freunde ab. Damit hatte Wylie genug Ausgangsmaterial für eine virtuelle Welt von Datenavataren. In silico, d.h. als Computersimulation, bildete er detailgetreu die Gesellschaften polynesischer Mikrostaaten und deren Verhalten ab – und zusehends auch die der USA.
Während dessen nahm SCL weiter Fahrt auf. Der republikanische Amerikaner Robert Mercer unterstützte die Firma mit 20 Millionen Dollar, um eine amerikanische Tochtergesellschaft zu gründen. Deren Chef sollte der Alt-Right-Aktivist und spätere Trump-Chefstratege Steve Bannon werden. Das Ziel: Die Unterstützung des republikanischen Wahlkandidaten der US-Wahlen 2016. Der Deal geht auf, die Tochterfirma taufte Nix: Cambridge Analytica.
In Mindf*ck beschreibt Wylie ein Treffen mit Bannon: „Wir sprachen vier Stunden lang – nicht nur über Politik, sondern auch über Mode und Kultur, Foucault, Judith Butler, die Feminist:innen der dritten Welle. Er teilte mein Interesse an der Dekonstruktion von Trends und war wie ich der Ansicht, dass unsere gesellschaftlichen Normen zum großen Teil auf ästhetische Fragen heruntergebrochen werden können.“
Zu diesem Zeitpunkt wusste Wylie noch nicht, dass das gemeinsame Schwärmen für digitale Wahlbeeinflussung gänzlich konträr motiviert war. Während Wylie naiv noch an einen humanistischen Technokratismus glaubte, der Menschen den Zugang zu politischer Mitsprache erleichtert, sah Bannon die Möglichkeiten zur Spaltung, gezielten Desinformation und schlussendlich zur Wahlunterdrückung, indem Cambridge Analytica ganze Bevölkerungsteile gezielt demotivieren sollte. 2014 realisierte Wylie endlich, welche Richtung das Unternehmen eingeschlagen hatte. Er verließ das Unternehmen und begann unter vorgehaltener Hand in seinen Kreisen vor den Zielen Cambridge Analyticas zu warnen – ohne Erfolg.
Der Ausgang des Brexit-Referendums und der US-Wahlen von 2016 ist bekannt. Beides waren akribisch vorbereitete, massive Erfolge der Desinformationsstrategien Cambridge Analyticas. Ein Beispiel der Trumpkampagne: Mit dem Slogan „Drain the Swamp“, den Cambridge Analytica bereits 2014 in Facebook-Gruppen, auf inszenierten Live-Veranstaltungen und über fingierte Online-Magazine erprobte und als erfolgreich auswertete, und mit der haarsträubenden „Crooked Hillary“-Kampagne zur Diffamierung der politischen Gegnerin wurde Donald Trump zum 45. US-Präsidenten.
Mindf*ck – eine Bilanz
Die politischen Ereignisse des letzten Jahrzehnts und ihre strategische Vorbereitung erzählt Wylie in seinem Buch unverblümt und empfindet dabei jene anfangs naive Grundhaltung nach, die ihn vom begeisterten liberalen Digitalnomaden zum Mittäter neurechter Wahlkampfmanipulation machte. “Mindf*ck” ist unter anderen deshalb so lesenswert, weil Wylie als schwuler Mann mit liberalem identitätspolitischen Hintergrund empathisch und analytisch scharf die Menschen hinter den Datenavataren zu lesen verstand und stets plastische Beschreibungen der Individuen anfügt, wenn er die digitalen Auswertungen und Experimente beschreibt. Die schicksalhafte Ironie dieses Umstands, dass der queere Linksliberale eine rechte Propagandamaschine am Laufen hielt, betont Wylie mehrfach, was sein Buch nebenbei auch zu einer gnadenlos ehrlichen Reflexion über Identitätspolitik macht.
Er erzählt die Kriminalgeschichte des wohl größten Datenraubs und -missbrauchs der Geschichte des Internets. Und er klärt mit seinen Schilderungen darüber auf, dass hinter jedem datenauswertenden Algorithmus empirische Forschung steckt: mal soziologische Studien von Universitäten, ein andermal Marktforschung per Telefon oder Meinungsumfragen an der Haustür.
Alles was als App oder Cookie Zugriff auf Daten verlangt, ist Ergebnis menschlicher Arbeit und folgt Unternehmensinteressen und damit eben auch Interessen einzelner Menschen. “Mindf*ck” schockt dahingehend oft mit der unverstellten Sicht auf moralisch fragwürdige Charaktere und deren zielgerichtetes Handeln. Big-Data-Skandale wie dieser lassen sich eben nicht mystifizieren als Ausrutscher außer Kontrolle geratener künstlicher Intelligenzen, sondern sind im Gegenteil kontrollierte Versuche Gesellschaften digital auszubeuten und zu beeinflussen. Es bedarf Menschenkenntnis um Daten so auswerten zu können, dass am Ende auf Emotionen und Affekte basierte Produkte Menschen so beeinflussen, dass sie ihre Überzeugungen anzweifeln.
Möglich war das alles unter anderem, weil bisher die Öffentlichkeit zu wenig Mitsprache bei der Gestaltung des virtuellen Raums hat. Deshalb spricht sich Christopher Wylie heute für die Regulierung des Netzes und digitaler Prozesse aus. Wie Versorgungsbetriebe auch, möchte Wylie Internetkonzerne öffentlich reguliert sehen.
Regeln fürs Internet und Anbieter zu Öffentlichen Betrieben!
Heute ist Christopher Wylie Trendforscher für Mode und politischer Aktivist. Er klärt über Big-Data-Firmen wie Facebook auf und engagiert sich für eine globale Regulierung des digitalen öffentlichen Raums. Im Epilog zu “Mindf*ck” verlangt er:
- Einen Bauplan für das Internet,
- einen Ethikkodex für Softwareingenieure, ähnlich dem von Ärzten oder Anwälten,
- eine angemessene Beteiligung der Gesellschaft an den Gewinnen großer Konzerne, wenn diese zum Großteil auf Daten der Gesellschaft beruhen und
- eine verlässliche Haftbarmachung großer Akteure im Netz.
„Wir erlauben es Menschen nicht, per Opt-In-Verfahren ihr Einverständnis zu geben, in einem Gebäude zu leben, das schadhafte Stromleitungen oder keinen Notausgang hat. Das wäre zu riskant, und keine allgemeinen Geschäftsbedingungen an der Eingangstür würden es einem Architekten ermöglichen, ein gefährliches Bauwerk zu errichten. Warum sollte das bei Entwicklern von Onlineplattformen anders sein?“
Wylie spricht auf einer Demonstration gegen Cambridge Analytica, Facebook und Big-Data-Praktiken im Internet. Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International
Allein dieser Epilog macht “Mindf*ck” zum Must-Have für alle, die sich um die Sicherheit und Nachhaltigkeit digitaler Ökosysteme bemühen. Im März 2020 erschien „Mindf*ck – Wie die Demokratie durch Social Media untergraben wird“ auch auf Deutsch im Dumont-Verlag.
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