Starten, stärken, stabilisieren: Digitale Netzwerke als Antwort auf komplexe Krisen

Im Wirbel der Corona-Krise entstanden viele digital organisierte Netzwerke, in denen Bürger:innen Lösungen für ihre Belange entwickelten. Sie stoßen in die Lücke, die Politik und etablierte NGOs offenlassen: Mitsprache von Vielen, Dialog statt Hierarchien und schnelle Ergebnisse statt starrer Abläufe. Von Sprachnachrichten bis hin zu “Co-Budgets” nutzen diese neuen Akteure dabei die Bandbreite digitaler Werkzeuge aus.

Puzzlestücke greifen ineinander.

Plötzlich nur noch von Zuhause arbeiten, im Nebenjob Lehrkraft für die Kinder spielen und der/die gestresste Partner:in faucht auch nur noch rum: Der Lockdown brachte viele Eltern an ihre Grenzen (und manche in Form häuslicher Gewalt auch darüber hinaus).

Mitte April wollte die Bundesregierung “zurück zur Normalität” und ließ sich dabei von einer Institution beraten, von der bis dato kaum jemand in Deutschland gehört hatte: Leopoldina, die Nationale Akademie der Wissenschaften. Ein Gremium aus 24 Männern und zwei Frauen, Altersschnitt über 60 Jahre, urteilte nun unter anderem über das Schicksal von acht Millionen Familien im Land. Für viele Betroffene ein Schock: Während Schulen bald wieder teilöffnen sollten (und bis heute bleiben viele Fragen offen), sollten Kitas möglichst „bis nach den Sommerferien“ geschlossen bleiben. Dass die alten Männer der Leopoldina über das Leben moderner Familien entscheiden, war sechs Müttern und Unternehmerinnen zuviel – der Startschuss für das Netzwerk #ElterninderKrise.

Die Community startete, natürlich, auf Facebook und sammelte in nur zwei Wochen 9 000 Fans (heute sind rund 14 000 auf der Seite). Ihr Aufruf traf den Nerv vieler Eltern und kanalisierte den Frust: Wieso hört und fragt uns niemand? Wer vertritt uns, wo ist die Eltern-Lobby? Die gründeten sie dann eben selbst, denn: “Wir wurden in den ersten Tagen bombardiert mit Nachrichten – diese Dynamik passte in keine bestehende Struktur und Strategie, etwa der einer etablierten Kinder-NGO”, erzählt Louisa Löwenstein, eine der sechs Gründerinnen. Dafür brachten sie und ihre Mitstreiterinnen selbst die richtigen Kompetenzen mit: Alle sind als freie Beraterinnen tätig, Löwenstein selbst auf agile Strategie, Arbeitsmethoden und Design Thinking spezialisiert. Normalerweise brechen sie also die Denkmuster ihrer Kund:innen auf, jetzt steckten sie selbst mittendrin im kreativen Chaos.


Unperfekt, selbstorganisiert, kollektiv: Neue Netzwerke bauen häufig auf den Prinzipien des “New Work” auf – und erweitern diese durch eigene Bedarfe und Experimente.
(Abbildung: www.humanfy.de)

Schnelle Ergebnisse, Strukturen später

“In den ersten Tagen lief viel über WhatsApp und Sprachnachrichten ab, bald darauf ordneten wir uns auf Slack”, erklärt Löwenstein. Mittlerweile moderieren dort fünf Freiwillige rund 700 Mitglieder – diese können neue Themen setzen, Ideen ausarbeiten und eigene Projekte auf die Straße bringen. Agilität, Effektivität und Prototyping (“schnell loslegen, schnell verwerfen”) sind Teil dieser Pop-up-Kultur, sagt Löwenstein: “Lieber etwas Unperfektes auf den Weg bringen, als es tot zu reden. Fehler dürfen bei uns vorkommen. Die passieren eben, wenn wir gleichzeitig vorwärts laufen und Strukturen nach Bedarf einführen”. Mängel im Prozess werden ad hoc behoben. Wenn das Feedback auf neue Konzepte zu lange braucht, werden eben Deadlines nachsteuernd eingeführt. Der Erfolg spricht für die Organisatorinnen: Inzwischen halten sie mit den Minister:innen Giffey (Familie) und Spahn (Gesundheit) persönlichen Kontakt und konnten die Probleme und Wünsche der Netzwerk-Eltern vertreten.

Sind Netzwerke also die bessere Antwort, wenn wie durch Corona das ganze System ins Wanken kommt? Sind agile Schwärme die Lösung für schwarze Schwäne wie Covid-19? Denn die historisch einmalige Krise stellte viele etablierte Organisationen vor ungekannte Probleme: Vom Umstellen der Arbeitsprozesse über das Verwerfen von Strategien bis hin zur Unmöglichkeit geplanter Veranstaltungen und Kampagnen. So blühten als Reaktion auf die Krise viele selbstorganisierte Communities wie die von Löwenstein auf. Sie setzten sich für neuartige (Schutz von Risikogruppen), bislang versteckte (Steuergerechtigkeit) oder jetzt verstärkte Probleme (Bildungssystem) ein und lieferten zügiger Antworten, als es große Strukturen konnten.

Flexibel, empathisch, krisenfest

Für Francesca Pick nichts Neues, sondern eher ständige Motivation: “Wenn alles fix und fertig ist, wird mir langweilig. Ich liebe das Organisieren und Aufbauen von Struktur, die ständige Anpassung und soziale Entwicklung der Gruppe”. Die gebürtige Deutsche mit US-Pass baute an den Netzwerk-Organisationen OuiShare in Frankreich und Enspiral in Neuseeland mit. Inzwischen ist ihr das Improvisieren so geläufig, dass sie zum Thema berät und auch an Büchern mitschreibt, die Muster von Netzwerken beschreiben: Better Work Together. Während sich klassische Organisation weiter abmühen, die Ansätze der New-Work-Bewegung zu integrieren, sind die Netzwerke, in denen sich Pick bewegt, von Natur aus bereits digital, dezentral, global aufgestellt. Das macht sie nicht per se besser, aber in immer volatileren Zeiten vielleicht resilienter: “Die Pandemie veränderte eigentlich nichts an unserer Zusammenarbeit: Wir waren ja bereits remote aufgestellt, sind flexible Arbeitsverhältnisse gewohnt und unser Fokus auf die Beziehungsarbeit unter Kolleg:innen bewahrte uns vor Konflikten”, erklärt Pick. “Ich ertappte mich schließlich beim Gedanken: Wow – jetzt sind wir also die Stabilen!”.

Bild von Francesca Pick.
Arbeitet lieber in organisationalen Ökosystemen als starren Strukturen: Francesca Pick.
(Foto: Andi Crown

Dennoch gibt es eine Achillesferse von Netzwerken gegenüber festen Organisationen: Das Lose, Informelle kann zerfallen, das Stabile, Formalisierte hält zusammen (vorausgesetzt der Außendruck zerbricht es nicht, wie während Corona häufiger der Fall). Viele Netzwerke, die aus Leidenschaft und im akuten Momentum gegründet wurden, lösen sich auf, wenn die erste Begeisterung verflogen ist oder für die Mitglieder andere Lebensthemen stärker in den Vordergrund treten. Denn früher oder später kommen die schwierigen Fragen auf den Tisch: Wer führt hier eigentlich? Und wo soll es hinführen? Wer kümmert sich um’s Geld und bezahlt den Notar?

Netzwerke stabil - aber nicht starr machen.  Grenzen der Organisation  -  Wer hat die Macht? - Wer hält die Idee am Leben? - Fürsorge von Allen für Alle.
Wenn es ans Eingemachte geht, geht vielen anfangs engagierten Netzwerken die Luft aus. Wie kommen sie über diese erste Schwelle hinweg und konsolidieren sich? Diese Dinge sollten frühzeitig geklärt werden. (Eigene Abbildung; Quelle: Francesca Pick & Richard D. Bartlett)

Macht, Grenzen, Geld: Das sind die harten Themen, mit denen sich auch auf Lust und Leidenschaft gebaute Netzwerke über kurz oder lang auseinandersetzen müssen. In etablierten Organisationen sind sie oft bereits festgelegt, unhinterfragt oder auch intransparent. “Wer als Gruppe in der Lage ist, sich gemeinschaftlich mit dem Thema Geld zu befassen, kann eigentlich alles lösen”, sagt Pick aus eigener Erfahrung. “Ich steckte mal in einer Situation, in der durchaus Geld vorhanden war für Projekte – aber niemand traute sich, es in Anspruch zu nehmen. Es zeigte sich später, dass die Gruppe noch nicht die Reife hatte, gemeinsam konkrete Projekte in der Welt umzusetzen”. 

Selten sind digitale Tools die Lösung für derlei kulturelle oder strategische Probleme – doch sie können eine Oberfläche anbieten, die zu einer kollektiveren Kultur motiviert (etwa Slack für besser verknüpfte Dialoge oder Trello zur Scrum-Methode). Und das funktioniert sogar beim Thema Geld: Das Tool Co-Budget teilt zunächst ein vorhandenes Budget auf die Mitglieder der Gruppe auf. Diese können ihre Gelder danach verteilen – als Investment in Projekte, die wiederum jedes Mitglied vorschlagen kann. So zeigt die Gruppe gemeinsam und transparent, was wirklich wertvoll und für das Netzwerk bzw. die Organisation tatsächlich geld-wert ist.

Happy End offen: Was Politik lernen könnte

Was Louisa Löwenstein und viele der neuen Community-Leader zum Engagement treibt ist womöglich auch das Gefühl, dass von oben herab und realitätsfern über sie bestimmt wird – ein Führungsstil von Politik, der voll an der Realität agiler und selbständiger Menschen vorbeigeht. Dabei fördert der digitale Wandel bereits seit Jahren neue Arbeitsformen, macht Start-ups und Netzwerke auch ohne festes Büro produktiv und ersetzt Befehlsketten durch mehr Dialog und agile Abstimmung. 

Leopoldina vs. Laptop-Eltern, Expertokratie statt Mitbestimmung: Diesen Clash gilt es aufzulösen. Denn die Zeiten bleiben unruhig und etablierte Abläufe greifen nicht mehr – Netzwerke hingegen nutzen digitale Plattformen und Kommunikation, um komplexe Themen zu lösen und viele Meinungen zu integrieren. Anstatt sich über das Engagement und die Bereitschaft von Betroffenen hinweg zu setzen, könnte Politik dazulernen und stattdessen mehr Schnittstellen für digital organisierte Netzwerke schaffen.

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