Digitale Selbsthilfe: Gemeinsam durch die Krise

Auf dem Weg aus einer Lebenskrise können Selbsthilfegruppen Betroffene spürbar entlasten. Doch funktioniert Selbsthilfe auch im digitalen Raum? Der Bundesverband „Initiative für Gesundes Leistungsklima e.V.“, der Menschen mit stressinduzierten Symptomen begleitet, hat sein Angebot vor zwei Jahren um virtuelle Treffen erweitert.

Ein Mann sitzt deprimiert, sich an den Kopf fassend auf einem Sessel, Foto durch die geöffnete Tür.

„Nein“ sagen. Was einfach klingt, überfordert viele Menschen im Alltag – und führt zu Stress, der wiederum die Psyche belasten und krank machen kann. In den ABCs, den Anderen Burnout Cafés des Bundesverbands „Initiative für Gesundes Leistungsklima e.V.“, wird das „Nein“-Sagen in verschiedenen Situationen nachgespielt. Anschließend tauschen sich die Teilnehmer:innen aus. Wie fühlt es sich an, „nein“ zu sagen. Und wie fühlt es sich an, das Wort zu hören?

Thomas Grünschläger von IFGL steht lachend in einem Garten

„Das sind klassische Übungen in unseren Selbsthilfegruppen, die für kleine Aha-Erlebnisse sorgen“, sagt Thomas Grünschläger, 66, Gründer und Finanzvorstand des Bundesverbands, „beispielsweise weil der Mensch gegenüber das „Nein“ oftmals gar nicht als unangenehm empfindet.“ Dieses Rollenspiel funktioniere keineswegs nur in einer Präsenzveranstaltung, so der Gründer. „Diese Übung geht auch prima online.“

An digitale Selbsthilfe hatte der gebürtige Rheinländer beim Aufbau der Initiative im Jahr 2012 jedoch noch nicht gedacht. Er wollte helfen, konkret, vor Ort. „Damals habe ich festgestellt, dass in meinem Umfeld zunehmend mehr Menschen mit den Unbilligkeiten des Lebens nicht mehr so recht klar kamen“, sagt der studierte Informatiker, der in seinem Arbeitsleben viele Veränderungsprozesse in Unternehmen mitgestaltet hat. Auch in seinem Leben und dem seiner Ehefrau habe es eine „relativ große Krise“ gegeben. „Wir haben leider keine Kinder“, sagt er. Zusammengeblieben seien sie trotzdem. „Wir haben uns überlegt, was das Gute daran ist. Zum Beispiel, dass wir null Verantwortung gegenüber anderen haben.“ Und die Möglichkeit, Geld zu sparen und frühzeitig den Job zu kündigen. 

Selbsthilfegruppen für Gestresste und Ausgebrannte

Genau das hat Thomas Grünschläger im Jahr 2011 dann auch gemacht. Seitdem übernimmt er nur noch ausgewählte Projekte. „Plötzlich hatte ich viel mehr Zeit, mein Umfeld zu beobachten.“ Und was er gesehen hat, ließ ihn nicht mehr los. „Burnout, Depressionen, Flucht in Krankheit oder in neue Arbeitsplätze hinein.“

Thomas Grünschläger wollte helfen. „Schließlich hatte ich die Zeit und die Ressourcen.“ So ist im Jahr 2013 zusammen mit zwölf weiteren Menschen aus seinem Bekanntenkreis die „Initiative für Gesundes Leistungsklima e.V.“ entstanden – ein niedrigschwelliges Angebot von Betroffenen für Betroffene.

„Wir haben gleich zu Beginn mit der St. Augustinus-Klinik in Neuss eine Kooperation geschlossen, als Backup, falls Leute bei uns zusammenbrechen“, sagt Thomas Grünschläger. Das sei jedoch weder in der ersten Sitzung noch danach jemals passiert. Schnell bauten sie ein deutschlandweites Netzwerk von Selbsthilfegruppen für Menschen mit stressinduzierten Symptomen auf. „Die ABCs bieten Prävention und Nachsorge und damit eine spürbare Entlastung für Gestresste und Ausgebrannte auf ihrem Weg aus einer Lebenskrise“, steht auf der Internetseite des Bundesverbands. „Unsere ABCs sind problemfreie Zonen“, ergänzt Thomas Grünschläger, „in der Regel beschäftigen sich die Menschen 24 Stunden am Tag mit ihren Problemen, bei uns können sie einfach mal zwei Stunden Urlaub von ihnen machen.“ 

Verantwortung übernehmen – für sich und andere

Büroräume hat die Initiative nicht. „Wir haben von Microsoft eine gescheite IT-Plattform geschenkt bekommen, Microsoft Teams, darüber organisieren wir uns.“ Für die physischen Cafés werden Räume angemietet. Die Initiative finanziert sich größtenteils aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen. Die Selbsthilfegruppen werden vom Staat gefördert. „Wir wollen auch versuchen, Gelder zu erwirtschaften und auf eigenen Füßen stehen. Daher bieten wir die ABCs auch als Präventionsprogramm in Unternehmen an.“ Aber ein durchschlagender Erfolg sei bislang ausgeblieben, weil es niemanden gebe, der sich um die Akquise kümmert. „Alle machen das ehrenamtlich“, betont Thomas Grünschläger, „vom Gruppenleiter bis zum Vorstand.“ Nur wenn Kosten entstehen, werden sie ersetzt. 

6 Männer und eine Frau stehen nebeneinander.
Das Vorstandsteam des IFGL e.V. Quelle: privat.

Bis heute hat der Verein gut 2800 Menschen begleitet – kostenlos. Die Teilnehmer:innen sind meistens zwischen 35 und 60 Jahren alt. Die Coaches der Selbsthilfegruppen haben in der Regel selbst eine Lebenskrise durchlaufen. „In manchen Gruppen ist es gelungen, aus den Teilnehmenden Gruppenleiter:innen zu machen. Das freut uns sehr, denn genau das wollen wir machen: Menschen sukzessive wieder in Verantwortlichkeit bringen, nicht nur für sich, sondern auch für andere.“ 

Online als Alternative zur Präsenzveranstaltung

Die Idee, die ABCs, also die Selbsthilfegruppen ins Netz zu verlagern, kam Thomas Grünschläger vor zwei Jahren. „Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die sind unter der Woche beruflich unterwegs, schlafen in Hotels.“ Andere sind in ihrer Mobilität eingeschränkt oder haben nur geringe zeitliche Ressourcen. Auch diese Menschen möchte die Initiative erreichen. „Und da habe ich mir gedacht, sie könnten doch über eine Videotelefonie-Software wie Zoom eine Online-Selbsthilfegruppe besuchen.“ Thomas Grünschläger, der mittlerweile auch als Dozent Seminare zum Thema „Work-Life-Balance“ an der Universität Duisburg-Essen gibt, hatte vorher schon Lernvideos mit LinkedIn produziert. „Mir waren Online-Medien also durchaus bekannt.“ Also übernahm er das Ruder. Trotzdem gab es Startschwierigkeiten. 

Der erste Testlauf mit Zoom war im Oktober 2019. Von Corona war damals noch weit und breit nichts zu sehen. „Der erste Versuch lief nicht so toll“, erinnert sich Thomas Grünschläger und lacht, „die Zoom-Konferenz hat ganz schön geholpert.“ Das Problem war der Klassiker aller Videotelefonie-Konferenzen: Technische Schwierigkeiten. Als diese überwunden waren, ging die Online-Selbsthilfegruppe in den Testbetrieb – zunächst mit sechs Teilnehmer:innen. „Wir haben die Gruppenräume, sogenannte Break-Out Sessions, ausprobiert. Und haben festgestellt, dass die Arbeit darin viel intensiver ist als in einer Präsenzveranstaltung.“ Wenn sich in einem großen Raum Menschen in Zweier- oder Dreierteams zusammentun, „ist die Geräuschkulisse relativ hoch.“ Viele kleine virtuelle Räume seien ein echter Gewinn, weil die Menschen dort konzentrierter bei der Sache sind.

Selbsthilfe per Handy, Tablet und PC

Gerade waren die ersten fünf Testläufe erfolgreich absolviert, da kam für alle Coaches und Teilnehmer:innen der Selbsthilfegruppen der Schock: Aufgrund der Corona-Pandemie mussten im März 2020 alle Präsenzveranstaltungen abgesagt werden. „Aber wir waren bestens gerüstet“, sagt Thomas Grünschläger. Alle ABCs zogen in den virtuellen Raum um. Und die Mehrzahl der Teilnehmenden kam mit. Warum einige, die „sehr intensiv in der Präsenz waren“, online nicht dabei sind, kann Thomas Grünschläger nur vermuten. „Einige fühlen sich vielleicht unsicher in der Technik und wollen sich keine zusätzliche Blöße geben – nach dem Motto, jetzt bin ich schon krank und kann nicht mal das.“ Auch beengte Wohnverhältnisse könnten eine Rolle spielen, oder dass Lebenspartner:innen nicht von dem Besuch der Selbsthilfegruppe wissen sollen. „Psychische Probleme sind nach wie vor stigmatisiert – auch in einer Partnerschaft.“ Da die Teilnehmer:innen keine Daten hinterlassen, sind sie für die Gruppenleiter:innen nicht erreichbar. 

Schwarze Bildschirme sind kein Tabu

Auch in den Online-Selbsthilfegruppen ist die Teilnahme anonym. „Die Menschen dürfen auch schon mal ohne Video teilnehmen, obwohl ich ursprünglich strikt dagegen war“, sagt Thomas Grünschläger. Mittlerweile sei er toleranter geworden, „weil man auch ein Stück Privatheit preisgibt und sich nicht alle von ihrem Umfeld abschirmen können.“ Im Plenum blendet er die schwarzen Bildschirme aus. „Nur wenn es an die Gruppenarbeit geht, bitte ich darum, die Videokamera anzuschalten.“ Denn auch im virtuellen Raum seien Blickkontakt, Mimik und Körpersprache wichtig. „Und das geht ja online ohnehin nur eingeschränkt.“ Für Übungen, bei denen Dinge aufgeschrieben werden müssen, nutzt die Gruppen mittlerweile einen Cloud-Speicherplatz. „Am Anfang hatten wir Probleme die Arbeitsergebnisse aus den Gruppenräumen zurückzuholen.“ Mit dem Cloud-Speicherplatz habe sich das Problem erledigt. „Egal wo ich bin – in einer Break-Out-Session oder im Plenum – ich kann immer auf die Dokumente zugreifen.“

Für die „Türrahmengespräche“, denen in den Präsenzveranstaltungen viel Zeit eingeräumt wird, hat Thomas Grünschläger jedoch noch keine Alternative gefunden. Dabei seien die kurzen Gespräche vor und nach den Treffen oder in den Pausen wichtig. „Dort findet der Austausch zwischen den Teilnehmernden statt, etwa über die Qualität von Psychotherapeut:innen oder welche Klinik interessant ist“, sagt Thomas Grünschläger, „Aber in einer Videokonferenz können halt nicht alle gleichzeitig reden.“ Das Feedback der Teilnehmer*innen sei trotzdem positiv. In Düsseldorf war die Gruppe sogar so begeistert, dass sie selbst nach den Lockerungen der Corona-Regeln im letzten Sommer nicht zur Präsenzveranstaltung zurückgekehrt ist. Die Teilnehmenden haben sich dazu entschieden, dauerhaft online weiterzumachen.

Mehr zur Initiative und den nächsten Terminen: https://ifgl.net

Gelber Pfeil

Beim Digital Social Summit am 29./30. März 2021 lädt Thomas Grünschläger von IFGL e.V. zu einer Runde lachendem Yoga ein.
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