Man kann sie buchen: Petra, Klaus, Uwe und Dieter. Vier Menschen, die einmal obdachlos waren. Heute bieten sie Stadtführungen an, in denen sie über ihr damaliges hartes Leben auf der Straße berichten. Dieters Tour beispielsweise verläuft rund um den Zoologischen Garten in Berlin. Das war früher sein Revier, durch das er mit seinen drei, vier Straßenkumpels zog. Eine von ihnen lebt heute nicht mehr. Sie starb an einer Überdosis.
Dieter zeigt eine Bank unter einem Laubengerüst. Auf dieser konnte er besonders gut schlafen, da das Gerüst ihn und seinen Schlafplatz aus drei Richtungen vor Angriffen schützte. Außerdem konnte er, falls es regnete, eine Plane über das Gerüst spannen. Dieter führt zu einer Skulptur aus Metall, die sich bei dem leichtesten Sonnenstrahl so schnell aufheizt, dass man hier wunderbar seine nassen Sachen trocknen kann.
Besondere Stadttouren für eine neue Perspektive
Dieter hat einen langen weißen Bart, trägt fast immer eine Sonnenbrille auf der Nase und ist etwas über 50 Jahre alt. Er war ein „besonderer Obdachloser“. Erstens trank er nur Milch, während seine Straßengefährten Alkohol oder Drogen konsumierten. Zweitens: „Ich habe eine große Sucht, und das sind Bücher“. Wo er nur konnte, las er. Drittens: Heute ist er kein Obdachloser mehr. Dieter hat eine Wohnung, ein Bankkonto – und Hoffnung.
Seine Tour heißt „Obdachlos auf schicken Straßen“ und führt entlang der Kantstraße mit seinen edlen Geschäften über den schönen und gut besuchten Savignyplatz. Zwei Stunden, so lange führt er mal Schüler:innen, dann FSJler:innen oder Azubis, auch Studierende, Firmenangestellte oder Messe- und Konferenzgäste herum. Die Teilnehmenden sind ein Querschnitt durch die Bevölkerung, die in Berlin nicht nur das Brandenburger Tor besichtigen wollen. Organisiert werden diese besonderen Stadttouren von dem gemeinnützigen Verein querstadtein.
Es geht um die Anerkennung von Randgruppen
„Wir erleben wenig Begegnung zwischen obdachlosen Menschen und dem Rest der Gesellschaft“, hält die 29-jährige Dominika Szyszko, die Projektkoordinatorin bei querstadtein ist, fest. Mit den Stadtführungen ermöglicht der Verein den Teilnehmenden einen Wechsel der Perspektiven. Dadurch sollen Brücken gebaut und Dialoge begonnen werden. „Viele Zuhörende sind wirklich bewegt. Sie haben zum ersten Mal mit einem obdachlosen Menschen gesprochen und von seiner oder ihrer Sicht auf die Stadt erfahren“, sagt Dominika.
Auch Dieter und die anderen Stadtführenden nehmen eine Menge mit: Ihnen wird zugehört. Es interessiert andere, was sie zu sagen haben. Sie haben eine wichtige Aufgabe, für die sie auch entlohnt werden. „Es geht um Anerkennung – und darum, dass Randgruppen eine Stimme in unsere Gesellschaft bekommen“, sagt Dominika. Nicht nur ehemalige Obdachlose berichten, auch Menschen mit Fluchterfahrung zeigen ihren neuen Kiez, berichten aus ihrer Heimat, über ihre Flucht und wie schwierig es war, in Deutschland anzukommen.
„Eine Zoom-Konferenz oder ein digitaler Workshop – damit ist es ja nicht getan. Vielmehr mussten wir versuchen, die Begegnung und die Erfahrung vor Ort irgendwie zu übertragen.“
Mit dem Lockdown: Umsatz gleich null
Mit dem ersten Lockdown endete diese Arbeit abrupt. Keine Führungen mehr, kein Austausch, keine Begegnung. Stattdessen: Stornierungen, ihre Umsätze sanken auf null. „Wir sind auf die Einnahmen durch die Touren angewiesen, um unabhängig zu sein und unsere Vereinsarbeit zu finanzieren. Das war natürlich ein Schock für uns und die Stadtführenden“, sagt Dominika.
Sie entwickelten eine Crowdfunding-Kamagne bei Startnext, mit Videos, mit Texten, um wenigstens einen Teil der entfallenen Einnahmen auszugleichen. Mit Erfolg, 136 Menschen spendeten insgesamt 6559 Euro. Dann haben sie überlegt, wie sie ihre Stadtführungen ins Digitale übertragen können. „Eine Zoom-Konferenz oder ein digitaler Workshop – damit ist es ja nicht getan“, sagt Dominika. „Vielmehr mussten wir versuchen, die Begegnung und die Erfahrung vor Ort irgendwie zu übertragen.“
Audiowalks und interaktive Stadtführungen
Sie entwickelten den Audiowalk Stimmen vom Bahnhof Zoo. Mit Hilfe der Berliner Stadtmission, die am Bahnhof Zoo eine ihrer Stationen hat, fanden sie vier geeignete Ansprechpartner:innen: Jenny, Blümchen, Erhard und Anton. Diese interviewten sie über ihr Leben auf der Straße rund um den Bahnhof Zoo und den Ku’damm. Diese vier Menschen berichten von ihren Ängsten und Problemen, aber auch von ihren Träumen und Zukunftsvorstellungen. Untermalt mit Sounds und von einer Erzähler-Stimme von Ort zu Ort geleitet, erfährt man, wer unter dieser Brücke sitzt oder auf jener Bank oder an jener Ecke. „Okay, es wird Zeit, dass wir mal losgehen. Siehst du die Brücke auf der anderen Seite. Für dich ist das eine ganz normale Brücke, aber für Jenny ist das hier viel mehr…“, so beginnt der Audiowalk am Bahnhof Zoo.
Lockdown bedeutete auch, dass Reisen nach Berlin ausfielen. „Um den verschiedenen Gruppen unsere Stadtführungen dennoch möglich zu machen, haben wir eine digitale, interaktive Variante konzipiert“, sagt Dominika. Das Besondere: Es ist eine Stadtführung geworden, die jeder bei sich zuhause und vor Ort machen kann. Dazu nutzte das Team von querstadtein die App Actionbound, mit der man „mobile Abenteuer und interaktive Guides“ erstellen kann, wie es auf deren Webseite heißt. Dafür drehten sie Videos von ihren Stadtführer:innen oder nahmen Audiofiles auf, in denen diese, wie bei den echten Stadtführungen, aus ihrem Leben berichten, aber auch notwendige Überlebenstricks aus dem Alltag eines Obdachlosen teilen.
Aufgaben vor Ort erfüllen, online diese auswerten
Gleichzeitig erstellten sie Aufgaben, die die Nutzer:innen bei sich vor Ort erfüllen sollen: Zum Beispiel einen potentiell geeigneten Schlafplatz für die Nacht suchen. Eine Bank? Ein Hauseingang? Eine Bankfiliale? Wo ist man geschützt? Wo wird man vertrieben? Wo ist es warm? Wo wird es windig oder wird man nass? Oder man muss Mülleimer ausfindig machen, in denen man Pfandflaschen bergen kann. „Dadurch lernen die Nutzer:innen ihre eigene Nachbarschaft aus einer neuen Perspektive kennen“, sagt Dominika.
Von all den Ergebnissen machen die Nutzer:innen Fotos, füllen ein Quiz aus, schreiben ihre Gedanken auf. Hinterher wird alles bei einem Onlineseminar mit einem der Stadtführer ausgewertet. „Es war ein großer Aufwand, diese Online-Stadtführung zu konzipieren und umzusetzen. Es hat aber auch Spaß gemacht, plötzlich Zeit und Raum dafür zu haben“, sagt Dominika. Beides, Audiowalk und digitale Stadtführung wollen sie beibehalten – als zusätzliches Angebot. „Trotzdem freuen wir uns, wenn die Zeit nach Corona wieder losgeht. Digital geht, das haben wir jetzt ausprobiert. Vor Ort und mit echtem Kontakt und einer echten Begegnung ist es aber viel besser.“
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