Digitale Plattformen und Apps helfen dabei, über geografische Entfernungen Menschen mit ähnlichen Identitäten oder Interessen zu vernetzen. Das ist für viele Menschen spannend und wichtig, gerade auch für diejenigen, die in Kleinstädten oder gar Dörfern leben, wo sie viele Interessen, Lebensstile – und vor allem kulturelle oder sexuelle Identitäten – nur schwer oder vorurteilsbehaftet ausleben können. Die Voraussetzungen, also das lokale Angebot wie auch die digitalen Zugangsmöglichkeiten, sind für Einzelpersonen sowie soziale Organisationen regional unterschiedlich, die Ziele meist gleich. Sichtbarkeit und Mitspracherecht für die eigene Gemeinschaft zu schaffen, verbindet als übergeordnete Ziele alle Interessengruppen. Im folgenden Text schauen wir uns anhand von Beispielen an, wie sichtbar diese Gruppen sind und was es digital und im öffentlichen Raum braucht, um sichtbar zu bleiben.
Über Gemeinsamkeiten bilden Menschen Gemeinschaften. Identitätspolitisch nennen wir das dann, wenn Menschen beispielsweise die gleiche sexuelle Orientierung oder kulturellen Hintergründe haben und sich darüber identitätsstiftend zu Gruppen zusammenschließen (Verbände der LGBTI, Ausländer- oder Religionsverbände). Es können aber auch soziales Engagement (Gewerkschaften, Behindertenverbände) oder ein bestimmter Lifestyle (Veganismus, umweltfreundliche Mobilität) sein, die Menschen zu einer Community zusammenbringen.
Dabei entscheidet, wie sehr der Kampf um Anerkennung und für Rechte im Vordergrund steht, oder ob Leute sich durch wirtschaftliche Teilhabe und Konsumverhalten definieren, um sagen zu können, ob ihre Interessenvertretung eher Identitätspolitik oder Lobbyismus ist. Beides sind jedoch legitime Mittel gesellschaftlichen Handelns.
Aus der Not eine Tugend: Schwule als Vorreiter beim Online-Dating
Die Geschichte der LGBTIQ-Community war lange Zeit eine der Verfolgung, Stigmatisierung und des Ausschlusses. Kein Wunder also, dass digitale Angebote zur anonymen Anbahnung von Treffen Anklang fanden. Früher als alle anderen war es vor allem die schwule Community, die digitale Angebote schuf, um sich zu treffen oder auszutauschen. Auch wenn Internetseiten wie gaychat.de (Deutschland, 1998) noch nicht als Dating-Apps verstanden werden konnten, war ihre Hauptfunktion dennoch, das Prinzip der Kontaktanzeigen – userbasiert mittels Profilen – ins Netz zu übertragen. 2004 ging die von schwulen Machern entwickelte Seite gayromeo online und war auf die Bedürfnisse der Community abgestimmt. Damit hatte sie Pioniercharakter und war bald großer Multiplikator im weltweiten Kampf um Gleichberechtigung.
In der Thüringer Landeshauptstadt existierten Anfang der 2000er einige Clubs, Bars und Anlaufstellen für die LGBTIQ-Szene. Auf 200.000 Einwohner:innen kamen im Jahr 2000 in Erfurt und Umland vierzehn öffentliche Orte, an denen die Regenbogengemeinde zusammenkam – vergleichsweise gut aufgestellt. Doch noch vor 2010 waren alle explizit schwul-lesbischen Orte verschwunden. Lediglich eine monatliche Party in einem Club, ein Restaurant mit schwulem Inhaber und die Aidshilfe waren geblieben. Der gleiche Trend zeigte sich auch an anderern Orten. 2009 unkte Carsten Wiedemann auf Queer.de: “Szenegastronomen dürften sich freuen: es ist weniger Klischee oder Scherz als bittere Realität, dass sich die Läden füllen, wenn Gayromeo alle paar Monate mal ausfällt.”
Apps vs. Bars: Braucht die Szene ein sprichwörtliches neues Coming Out?
Im Gespräch mit Florian Filtzinger äußert auch er als Organisator des Berliner CSD den Verdacht, dass die Digitalisierung queerer Datingkultur zu deren Verschwinden aus der Öffentlichkeit beiträgt. Doch mehr als um sichtbare Ausgehkultur sorgt er sich um fehlende politische Teilhabe. Denn nicht nur Dating-Apps, sondern auch soziale Medien generieren zusehends mehr digitale, likebasierte Anteilnahme als Besucherzahlen auf Demos. Einzig um den Berliner CSD muss sich FIorian Filtzinger keine Gedanken machen, denn als Großevent und Teil historischer sowie politischer Tradition der LGBTIQ-Community, so Filtzinger, wachsen jährlich die Teilnehmerzahlen des bunten Straßenzuges.
Trotz intensiver Recherchen scheint es leider (noch) keine statistischen Belege für einen Kausalzusammenhang von mittlerweile hochfrequentierten Dating-Apps und dem Verschwinden queerer Orte aus dem Stadtbild zu geben. Sowohl Regenbogenfonds e.V., der Verein schwuler Wirte Berlins als auch das Clubkataster der Berliner Clubcommission konnten aus ihren Datenbanken keine Aussagen zu dieser spezifischen Anfrage ableiten. Ole Möller, Sprecher der Clubcommission sowie des Regenbogenfonds, vermutet jedoch auch das bereits Geschilderte.
Neue Gäste dank Digitalisierung? Wandel eines Ortes
Umso schöner, dass es noch historische Szenelokale mit treuer Stammkundschaft gibt, aber auch sie treibt das Thema Digitalisierung um. Der Berliner Sonntags Club e.V. öffnet seit 1973 in Berlin seine Tore. Als Bar, Café, Galerie und vor allem mit viel sozialem Engagement und einem Netzwerk vieler Ehrenamtlicher, Expert:innen und Kursleitender haben sich die Gründer:innen des Sonntagsclubs über die Grenzen des Prenzlauer Berges hinaus einen Namen gemacht. Der Sonntags Club sorgt sich nicht, dass das über fast fünf Jahrzehnte gewachsene Stammpublikum irgendwann ausbleibt oder ins Netz abwandert.
Aber: Zusätzlich zu den Stammgästen braucht es auch junges, neues Publikum. Eszter Kadar, die für die Entwicklung digitaler Strategien im Sonntags Club zuständig ist, möchte mit ihren Kolleg:innen deshalb mit dem Angebot für Lesben, Schwule, inter und trans Personen, den Workshops und Gruppentreffen thematisch an den Zeitgeist angeschlossen bleiben. Dazu braucht der Club primär eine Digitalisierungsstrategie um eben nicht unterzugehen.
Ein klares Konzept muss her
Nicht so einfach für kleine gemeinnützige Vereine: Eszter erklärt, dass die Mitarbeiter:innen intern bisher proprietäre Softwareangebote nutzten, dass es aber wildwüchsig werde, sobald die Gruppen, die den Sonntags Club zum Ausgangspunkt für ihre Gruppentreffen nehmen, sich verständigten: Messenger, Mails oder SMS nutzten alle Organisator:innen zur Verständigung mit ihren Gruppen nach Belieben und Absprache. Wer beispielsweise prekär lebende Teilnehmer:innen berücksichtige, müsse digitale Kommunikation aufs Basislevel herunterkochen, mahnt Eszter; da sei eine SMS hilfreicher als eine Einladung zum Slack-Portal. Deshalb überlässt es der Sonntags Club derzeit den einzelnen Gruppen oder deren Leiter:innen, wie sie sich digital verständigen.
Auch wenn Eszter und Kolleg:innen es als Ziel längst formuliert haben: Von einem gemeinsam verwalteten Contentmanagementsystem und einheitlicher digitaler Kommunikation und Onlinepräsenz ist der Club noch weit entfernt. Die Angst vor Datenmissbrauch schreckt zudem viele Gäste des Sonntags Clubs vom Gebrauch Sozialer Medien für Verabredungen ab. Deshalb braucht der Club Fingerspitzengefühl bei der Umsetzung und langen Atem für den Weg zum Ziel.
Doch nochmal ein Schritt zurück: Der Club braucht neue Hardware, um basale, technische Voraussetzungen für seine digitale Wende zu erfüllen. Einen kleinen Equipmentpool sähe Eszter als die Verantwortliche für digitalen Content neben neuen Computern auch gern im Club, damit sie Videos oder Podcasts spontaner produzieren kann. Der Club muss sich online sichtbarer machen, um zukünftig auch Publikum, Gäste und Ratsuchende zu erreichen, die sich längst daran gewöhnt haben, dass ein großer Teil der LGBTIQ-Community online nach Bildern, Videos, Blogs und Tipps für alle Lebenslagen sucht, wenn die Identitätsfindung schwerfällt, weil Anschluss an Gleiche fehlt. Die Crux bleibt parallel dazu dennoch, die neue Generation dann auch ins Lokal zu locken.
Hybride Konzepte für mehr Sichtbarkeit
Während sich die einen wünschen, dass kritisches Bewusstsein über App-Dating wieder ein paar mehr Leute in die Szenetreffs bringt, möchten andere in der digitalen Welt Fuß fassen, um Leute zu werben und so schlussendlich ihren Ort mit Gästen füllen. Beides ist verständlich und doch so widersprüchlich in der Gegenüberstellung. Vielleicht kann ein Blick auf Lifestyle-Angebote helfen, den Spagat zwischen urbaner und digitaler Sichtbarkeit zu meistern?
Seit 2017 organisiert der europäische Verein Klima-Bündnis die Aktion Stadtradeln und hat dazu eigens eine App entwickeln lassen. Über die App können sich Personen und Gruppen registrieren und in vier Wochen zwischen Mai und Oktober für ihre Kommunen Kilometer sammeln.
Doch die App ist nicht bloß ein Kilometerzähler und Schiedsrichter: Kommunen und Universitäten erhalten die anonymisierten Daten, um Radinfrastruktur und Mobilitätskonzepte zu verbessern und Städte umweltfreundlicher und gesünder zu machen. Damit hat die Stadtradeln-App einen doppelten positiven Effekt: sie zieht mit Wettkampf-Eifer Radler:innen auf die Straßen – auch mit der Absicht, ihre Community sichtbar im Stadtverkehr zu machen. Damit schließt sie Radfahrende digital an die Veränderungsprozesse im urbanen Raum an und ermöglicht ihnen Teilhabe durch auswertbare Datenmengen, die Verantwortliche nicht länger kleinreden können. Die rad-aktivsten Kommunen zeichnet das Klima-Bündnis jedes Jahr im November aus und macht damit im Ansatz greifbar und sichtbar, wie groß die Zahl der Radfahrer:innen ist.
Think outside the closet: Netzwerken mit neuen Partner:innen
Seit langem trackt sich auch die schwule Community gegenseitig mit auf Geodaten basierten Dating-Apps wie Grindr, Ok Cupid und Co. Die Teams hinter den Plattformen wissen dadurch genau, wie sie im Netz unterschiedliche demographische Gruppen verschiedenster Erdteile ansprechen kann und verkaufen dieses Wissen teils an Unternehmen.
Kann ein Blick auf diese von ihr selbst erzeugten Bewegungsdaten der Szene und ihren Verbänden und Interessengruppen helfen, Strategien und kritische Kampagnen zur Beförderung ihrer Ausgehkultur neu zu denken? Schließlich sind auch schwule oder lesbische Barbetreiber:innen und Clubbesitzer:innen eine veritable Unternehmensgruppe mit Interesse an den Daten ihrer Zielkundschaft. Im Zusammenspiel von digitalen Lösungen und sozialem Engagement schlummert viel Potential. Der Vergleich mit der Aktion Stadtradeln kann dazu anstoßen, in der LGBTIQ-Community zumindest freiheitsliebender Metropolen über Sichtbarkeitskonzepte nachzudenken, die digitale Trends und urbane oder gar ländliche Angebote im Stadtbild gleichermaßen fördern.
Den heiligen Gral wird dabei sicher niemand am Ende des Regenbogens finden, aber sicherlich lassen die Erkenntnisse vieler anderer Bereiche wie der Radfahrlobby den Schluss zu, dass auch für die queere Community maßgeschneiderte Konzepte entstehen können, die sowohl den Bedarf nach sozialen Medien achten, als auch Angebote und Sichtbarkeit im Stadtraum erhalten helfen. Im Austausch miteinander bei einem Latte Macchiato können zivile Player für identitätspolitisches Community-Building viel über unterschiedliche Digitalitätskonzepte lernen. Den runden Tisch dazu bieten Treffpunkte wie der Sonntags Club.
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