Moritz Ritter: Politik über Social Media funktioniert nicht

Moritz Ritter will keine schrillen Diskussionen, sondern konstruktiven und partizipativen Diskurs. Deswegen entwickelt der Geschäftsführer von „Liquid Democracy“ digitale Tools, die politische Beteiligungsprojekte möglich machen.

Foto von Moritz Ritter im Büro von Liquid Democracy.

Manchmal ist es mit dem Internet wie mit Junkfood: Wir wissen, dass es uns eigentlich nicht gut tut, kommen aber trotzdem nicht davon los. Und so hat auch Moritz einen Twitter-Account. Aber gleichzeitig sagt er: Die Plattform habe in den letzten Jahren „der Demokratie nachhaltigen Schaden“ zugefügt. Schrille, polarisierte Diskussionen in denen das Gegenüber von der Teilhabe ausgeschlossen werden soll, weil man ihre Meinung für falsch halte, und „alternative Fakten“ eine Bedrohung der Wahrheit geworden seien, hält er „für eine wirkliche Gefahr für das demokratische System“.

Sein Traum: liquide Demokratie, also flüssigere, transparentere und flexiblere Ansätze der politischen Entscheidungsfindung.

Mechanismen der Selbstdarstellung

Moritz weiß, wovon er spricht. Der 33-Jährige ist Geschäftsführer des gemeinnützigen Vereins Liquid Democracy und hat deshalb schon von Berufs wegen ein Auge auf den Zustand der Demokratie. Twitter im Speziellen, aber auch Social Media ganz allgemein, bestimme den politischen Diskurs zwar stark, sei aber grundsätzlich einfach nicht die richtige Spielwiese, wenn es um den Zustand der Gesellschaft und ihre Zukunft gehe. „Facebook und Twitter basieren auf Mechanismen der Selbstdarstellung. Deren Algorithmen erzeugen Aufmerksamkeitsspiralen, bei denen es nicht um einen zielgerichten Dialog geht.“

Den aber hält Moritz für den Wesenskern des demokratischen Diskurses. Politik müsse allen Bevölkerungsschichten mit ihren Interessen und Wünschen gerecht werden, solle idealerweise auf das Wissen vieler unterschiedlicher Beteiligter zugreifen und um Ausgleich ringen. Dafür sei Social Media nicht das richtige Instrumentarium. Die klassische parlamentarische Demokratie aber, in der Entscheidungen durch gewählte Volksvertreter:innen in Parlamenten gefällt werden, reicht dem studierten Politikwissenschaftler ebensowenig. Sein Traum: eine liquide Demokratie, also flüssigere, transparentere und flexiblere Ansätze der politischen Entscheidungsfindung.

Auch wenn der Begriff, den vor einem Jahrzehnt stark die Piratenpartei nach Deutschland gebracht hat, nicht wirklich trennscharf ist, steht er für eine Mischform aus direkter und indirekter Demokratie; ein politisches System, in dem die Teilnehmer:innen selbst darüber entscheiden, ob und wie sie ihre Interessen wahrnehmen. Sie können entscheiden, ob sie über politische Frage selbst abstimmen oder ihre Stimm- und Wahlrechte für konkrete Belange an andere delegieren. Heißt konkret: Wer ein besonderes Interesse an einem Thema hat oder sich darin besonders fit fühlt, bringt sich selbst ein, wer lieber auf die Expertise anderer vertraut, delegiert die eigene Stimme temporär, kann diese Entscheidung aber auch jederzeit widerrufen und wieder selbst aktiv werden. Auf diese Weise nehmen Bürger:innen aktiver am politischen Geschehen teil – und müssen nicht ohnmächtig dabei zusehen, wie andere, denen sie alle vier Jahre einmal ihre Stimme geben, in ihrem Namen entscheiden, auch wenn sie zu Einzelfragen vielleicht ganz andere Standpunkte haben.

Moritz, selbst studierter Politikwissenschaftler, ist überzeugt davon, dass viele Menschen gern mehr mitmachen und sich gern einbringen würden. „Die Leute sind nicht politikverdrossen. Im Gegenteil.“ Es werde ihnen nur oft schwer gemacht; das politische System wirke mit seinen hohen Hürden oft abschreckend. Sichtbar werde das oft an schwindendem Vertrauen in Parteien und politische Institutionen.

Anonymität muss nicht Hassrede heißen

Es ist Moritz Job, an Tools zu arbeiten, die Hürden für die politische Teilhabe zu verkleinern. Liquid Democracy entwickelt dafür Lösungen: Bürgerplattformen für Stadtverwaltungen etwa oder KI-gestützte Assistenzsysteme für Moderationen und Apps für die digital-demokratische Mitbestimmung von Jugendlichen. Das Herzstück der Arbeit des Vereins aber ist adhocracy+. Die Beteiligungsplattform bietet Organisationen unterschiedlichste Module für Beteiligungsprozesse. „Damit ist es möglich, Ideen einzureichen und zu diskutieren“, erklärt Ritter, „sie können Budgets erstellen, Vorhaben priorisieren und interaktive Veranstaltungen durchführen.“

Jede Organisation bekommt auf adhocracy+ einen eigenen Bereich und kann dort private oder öffentliche Vorhaben bearbeiten – so wie bisher etwa wie die Landtagsfraktion der Grünen in Sachsen-Anhalt, die Landeshauptstadt München oder die Kommune Werder-Havel, die die Plattform für die Erstellung eines Zukunftshaushalts, in dem Kinder und Jugendliche abstimmen konnten, genutzt hat. Insbesondere die chronisch klamme Zivilgesellschaft könne von diesem kostenfreien Tool profitieren, so Moritz. „Wir sehen, dass viele Angehörige dieser Zivilgesellschaft digital arbeiten wollen, aber noch nicht wissen, wie das geht.“ Auch hier hilft Liquid Democracy: mit Workshops, in denen die Profis Engagierten zeigen, wie sie Projekte starten und bearbeiten.

Dabei geht es nicht immer nur ums richtige Know-How: Moritz und sein Team arbeiten auch gegen viele Vorurteile an – die ihnen unter anderem Plattformen wie Twitter eingebrockt haben. „Es gibt viel Angst vor dem Internet im Allgemeinen und speziell der Anonymität, in der man sich dort bewegen kann. Das wird schnell mit Hassrede gleichgesetzt.“ Tatsächlich aber habe er in den fast zehn Jahren, in denen er nun mit der Software arbeite, keinen Fall von Hatespeech erlebt – dank anderer Algorithmen, bei denen es nicht aus Profitstreben um eine möglichst starke Polarisierung gehe.

Textgrafik. Drei Fragen an Moritz Ritter zu seiner Lieblings-App, der Digitalisierung und seinen potentiellen Plänen als Digitalminister.

Politik braucht ein anderes Selbstverständnis

Politik müsse sich grundlegend verändern, sagt Moritz. Er will weg von einem System, in dem sich Politiker:innen als Entscheider:innen verstehen und andere Akteure möglichst draußenhalten wollen. Es gehe viel weniger darum, lediglich Akzeptanz für politische Entscheidungen zu schaffen, sondern darum, „die richtigen Leute an den Tisch zu holen und von ihrem Wissen zu profitieren“. Bürgerbeteiligung sei nicht, Bundestagssitzungen live im Internet zu streamen oder wenn ein Parlament einen Facebook-Account habe.

„Es geht darum, die Themen zu erkennen, die den Menschen wichtig sind und sie in die Entscheidung mit einzubeziehen. Gerade Jugendliche kommen in der politischen Debatte kaum vor und haben auch ganz oft das Gefühl, dass ihre Interessen nicht gesehen werden. Dabei wollen die sich aber wirklich gern einbringen.“ Nicht die laute Diskussion, die viel Aufmerksamkeit generiere sei wichtig, sondern der wirklich konstruktive Austausch von Positionen und Informationen. Politiker:innen sollten zu Moderator:innen werden, die einerseits komplizierte Sachverhalte übersetzen und andererseits die Expertise von Menschen aufgreifen, die sonst im politischen System eher nicht gehört werden.

Expert:innen wie der Politikwissenschaftler Frieder Vogelmann sehen in der liquiden Demokratie eine „Versöhnungstechnologie“, die die demokratische Spaltung in Regierende und Regierte aufheben könne, weil sie – indem über viele Einzelfragen von allen entschieden werden kann – die Chance auf schnelle Positionswechsel beinhalte. Kritiker dagegen merken an, das Konzept überschätze, wie politisiert die normalen Bürger:innen seien und schließe all jene aus, die keinen Zugang zum Internet hätten und die digitalen Tools nicht nutzen könnten. Für Moritz ist die Digitalisierung dagegen kein Entweder-Oder, sondern ein Prozess. Den gelte es nun gut zu gestalten und die analoge und die digitale Welt in einem guten Gleichgewicht zu halten. Das richtige Maß; so wie beim Junkfood auch.

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