Foto: place/making
Man stelle sich vor, eine Online-Karte bietet auf einen Blick alle nicht kommerziellen Angebote und Anlaufstellen, die für Senior:innen relevant sind. Eine komfortable Filterung führt zielgerichtet zu kulturellen Veranstaltungen, Bildungsangeboten oder Selbsthilfegruppen. Wer noch nicht vertraut mit Internet-Browsern ist, erhält in ausgewählten Seniorenfreizeitstätten eine Einführung. Einrichtungen, Organisationen, aber auch Privatpersonen stellen ihre Angebote unkompliziert ein, sodass eine bunte Angebotslandschaft an einem Ort im Netz entsteht.
Was lange Vision war, ist gerade dabei, unter dem Namen „Seniorennetz Berlin“ Realität zu werden. Melanie Thoma leitet das Projekt beim AWO Landesverband Berlin. Sie weiß, wie verstreut Informationen für Ältere im Netz sind: auf den Websites der Bezirke, in Veranstaltungskalendern, den News des Quartiersmanagements. Für die Zielgruppe ist es eine fast unlösbare Aufgabe, alle wichtigen Infos zügig und vollständig zu finden. Sie fasst die Motivation des Wohlfahrtsverbandes, mit Unterstützung der Lotto Stiftung Berlin in das Projekt zu investieren, so zusammen:
„Wir erleben nach wie vor eine digitale Spaltung. Ältere Menschen verfügen nicht in gleichem Maße über Zugang zu digitalen Technologien und haben in verschiedenen Lebensbereichen nicht die gleiche Chance auf Teilhabe – das hat gerade wieder der Altersbericht ‚Ältere Menschen und Digitalisierung‘ belegt.“
Mit der Kombination aus leicht zugänglichen Angeboten und Qualifizierung will der AWO Landesverband Berlin gegensteuern. Unterstützung erhält er von der Agentur place/making, die bereits jede Menge Erfahrung mit gemeinnützigen Kommunikationsarchitekturen gesammelt hat. Sie hat das Seniorennetz technisch entwickelt und in der Praxis getestet – mit dem Anspruch, die Plattform besonders elegant und barrierefrei zu designen.
Prototyp im Praxistest
Das Modellprojekt lief 2016 bis 2020 unter dem Titel „Gemeinsam und gut vernetzt im Stadtteil – 80+ goes digital Insiders“ im Märkischen Viertel, einer Großwohnsiedlung im Norden Berlins. Unter Federführung der städtischen GESOBAU AG sowie dem Netzwerk Märkisches Viertel e. V. und place/making entstand eine digitale Nachbarschaftskarte. Das Ungewöhnliche: Die Plattform wurde zusammen mit der Zielgruppe entwickelt. Später überprüften ebenfalls Senior:innen in Form von Fokusgruppen die Benutzerfreundlichkeit der Anwendung.
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Mit großem Aufwand hatte damals ein eigenes Redaktionsteam die Daten recherchiert und aufbereitet. Im Nachbarschaftstreff „Viertel Box“ konnten sich Senior:innen die Bedienung zeigen lassen oder die Info-Stele nutzen, die über ein Display die Angebote anzeigt und in der sogar ein Drucker installiert ist, der diese zum Mitnehmen auswirft. Stefan Göllner, Mitinhaber von place/making, bilanziert die Erfahrungen aus dem Pilotprojekt so:
„Wir haben sehr viel darüber gelernt, wie man ein solches Projekt angehen muss. Die Nutzung lokaler Engagementstrukturen etwa ist essenziell. Gleichzeitig haben wir festgestellt, dass eine Siedlung allein keine kritische Datenmenge produziert. Uns war klar, dass wir eine Skalierungsebene höher ansetzen müssen, also einen Roll-out über die ganze Stadt brauchen.“
Ein Seniorennetz für ganz Berlin
Gesagt, getan. 2018 fragte Stefan Göllner beim AWO Landesverband Berlin an, ob dieser das Seniorennetz für ganz Berlin betreiben möchte. Da der Wohlfahrtsverband soziale, gesellschaftliche und eben auch die digitale Teilhabe älterer Menschen unterstützt, passte es inhaltlich. Nachdem sich die Lotto Stiftung Berlin dann verpflichtete, das Ganze zu finanzieren, konnten die Vorbereitungen der stadtweiten Verbreitung beginnen. Melanie Thoma: „Im Märkischen Viertel haben wir bereits gesehen, dass das Modell funktioniert und die Menschen erreicht. Um ein buntes, interaktives und wirklich allen zugängliches Angebot zu erstellen, war es uns zusätzlich wichtig, das Thema Barrierefreiheit in den Blick zu nehmen und die Website mehrsprachig anzulegen. Sämtliche Inhalte der Seite werden zudem in verständliche Sprache übersetzt. Wirklich jeder soll die Karte nutzen können!“
Da eine Stadt von der Größe Berlins nicht auf einmal erschlossen werden kann, startet die Plattform während der dreijährigen Projektphase in drei Bezirken eng begleitet vom Projektteam. Dort werden die Info-Boxen installiert und Schulungen angeboten. Offen steht die Plattform aber allen Bezirken. Um ein funktionierendes Gerüst für die Karte zu errichten, erarbeiteten Altenhilfe- und Geriatriekoordinator:innen sowie Seniorenvertretungen und das Projektteam gemeinsam die zentralen Themen und Kategorien. Eingeladen wurden zudem Migrantenorganisationen und Menschen aus der LGBTIQIA*-Community, ihre Angebote auf der Plattform einzustellen.
In den ausgewählten Bezirken gibt es jeweils zwei analoge Anlaufstellen, die Unterstützung bei der Nutzung der Online-Map bieten. Perspektivisch werden dort auch Schulungen für Senior:innen stattfinden, sodass sich noch Ungeübte selbstständig auf der Karte bewegen und noch andere IT-Fähigkeiten erlernen können. Im Hinblick auf die Datensätze handhabt es die AWO so, dass Organisationen und Privatpersonen ihre Angebote selbstständig in eine Online-Maske eintragen und diese dann von der Redaktion geprüft und freigeschaltet werden.
Notwendige Ressourcen
Anfang September 2021 ging das Seniorennetz Berlin mit knapp 500 Einträgen online. Wenn jemand – sei es ein Wohlfahrtsverband, eine Kommune, eine Freiwilligenagentur oder Bürgerstiftung – Interesse hat, ein ähnliches Netz zu installieren, ist dies in Zusammenarbeit mit place/making möglich. Die Software, die hinter der Karte steht, ist Open Source, an Kosten fallen allerdings die Einrichtung und der Betrieb durch die Agentur an. Das Projektmanagementuss jeder Akteur selbst organisieren. Der AWO Landesverband Berlin stemmt das Projekt mit insgesamt 1,25 Vollzeitäquivalenten.
Den Aufwand sollte man nicht unterschätzen: Nach der fordernden Implementierungsphase und dem Launch geht die Arbeit weiter. Nach und nach sollen alle Bezirke eingebunden werden. Außerdem steht das Entwickeln eines Curriculums für die Vor-Ort-Schulungen an und natürlich muss die Karte stetig bekannter gemacht werden, damit sowohl diejenigen, die Angebote einstellen können, als auch potenzielle Nutzer:innen von ihr erfahren. Wichtig sind dabei Multiplikator:innen der Seniorenarbeit wie die Bezirksämter. Entscheidend ist es zudem, auf eine bestehende Struktur aufzusetzen. Man braucht Leute, die die Communitys kennen und wissen, wie die Ansprache funktioniert. Für Stefan Göllner und Andreas Pittrich, Erfinder des Seniorennetzes, geht um weit mehr als nur Freizeitangebote für Ältere:
„Wir möchten diese Menschen im Digitalen ermächtigen. Es geht dabei um nicht weniger als Teilhabe an der Gesellschaft.“