Es gibt viele Wege, auf denen jeder und jede in Deutschland seine Stimme erheben kann, wenn er oder sie mit etwas nicht einverstanden ist. Eine Initiative kann ins Leben gerufen oder eine Petition gestartet werden. Oder man engagiert sich ehrenamtlich, gründet einen Verein oder wirbt für einen Volksentscheid. Viele Bürger:innen gehen diesen Weg und setzen sich für saubere Luft, für mehr Fahrradstraßen oder bessere Schulen ein.
Doch eine Gruppe ist immer noch stark außen vor, wenn es um Teilhabe an politischen und zivilgesellschaftlichen Prozessen geht: Menschen mit internationaler Geschichte. „Es ist nicht so, dass diese Gruppen sich nicht beteiligen wollen. Es sind leider noch immer zu viele Barrieren auf dem Weg dorthin vorhanden“, sagt Selia Boumessid. Eine Reihe von Studien haben das belegt, zuletzt das Integrationsbarometer des Sachverständigenrates für Integration und Migration.
Wie kommt man an die jungen Leute?
„Genau hier wollen wir ansetzen und Wissen und Ressourcen vermitteln“, sagt Selia Boumessid. Sie ist 27 Jahre, Kulturmanagerin und arbeitet für das Projekt „STAEpolSEL – Gesellschaft selbstwirksam gestalten“. Für das Projekt kooperieren die Iranische Gemeinde Deutschlands (IGD) und das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) miteinander. Selia ist für das BBE dabei, ihre Kollegin Laura Montanaro von der IGB.
Laura wiederum ist 31 Jahre und von Beruf eigentlich Medienmanagerin. Als sie vor circa einem Jahr mit ihrer Arbeit begannen, war Corona schon aktuell. „Wir mussten also gleich überlegen, wie wir unser Anliegen digital zu den jungen Leuten bringen“, sagt Selia. Sie richteten einen Instagram-Kanal ein, erstellten eine eigene Webseite und ließen einen Trailer produzieren. Außerdem telefonierten sie viel mit anderen Organisationen und Vereinen, die mit Menschen mit internationaler Geschichte arbeiten. „Wir wollten das Projekt bekannt machen und Zugang zu jungen Leuten bekommen, die sich eventuell beteiligen wollen“, sagt Laura.
Ideenwettbewerb als Weg zur mehr Kompetenz
„Empowerment“ ist vielleicht das wichtigste in ihrer Arbeit. Menschen dazu befähigen, selber handlungsfähig zu werden – zum Beispiel mit der „Civic Ideas Factory“. Das ist ein Ideenwettbewerb für kleine Teilhabe-Projekte, die am Ende mit einem Micro-Stipendium gefördert werden. „Das spannende aber ist der Weg dorthin“, sagt Selia. In Schulungen vermitteln sie den Teilnehmenden die Basics in Öffentlichkeitsarbeit und Moderation, in Controlling und Projektmanagement. „So ermöglichen wir niedrigschwellige Zugänge und geben den Teilnehmenden ein Gefühl von Selbstwirksamkeit“, ergänzt Laura.
Diese Schulungen finden per Zoom statt, zu denen 15 Teilnehmende eingeladen werden. Los geht es mit einem kleinen Care-Paket, das alle vorher zugeschickt bekommen. „Mit Snacks, mit Informationen, also etwas zum Anfassen, damit ein Gemeinschaftsgefühl entsteht“, sagt Selia. Dann sollen die Teilnehmenden ihre Ideen vorstellen und erhalten Feedback von den anderen. „Dadurch werden die Ideen konkreter und damit auch umsetzbarer. Wir überlegen gemeinsam, wie man einen guten Projekttitel findet und wer die Zielgruppe sein soll“, erklärt Laura.
Rhetorik geht besser in Präsenz
Grundsätzlich haben sie gutes Feedback bekommen. Gleichzeitig hätten sie gemerkt, dass sie mit manchen Einheiten an ihre Grenzen stießen. „Rhetorik und Moderation zum Beispiel. Dieses Gefühl vor Leuten zu reden, die einen sehen, die Gesten und die Körperhaltung wahrnehmen, das funktioniert besser in Präsenz“, sagt Selia. Um die Teilnehmenden miteinander vertraut zu machen, hätten sie immer wieder auf Breakout-Sessions gesetzt.
Hier können sich zwei, drei Leute in getrennten virtuellen Räumen unterhalten. Um alle einmal aufzulockern, habe sie zwischendurch immer wieder kleine Warmup-Übungen eingestreut – sich durchschütteln, den Körper abklopfen. „Am Ende hatten wir eine vertrauensvolle Nähe in den Zoom-Konferenzen geschaffen, auch wenn die Leute sich noch nie in echt gesehen haben“, sagt Selia.
Standpunkte vertreten, Haltung erarbeiten – diskutieren lernen
Gut zu diskutieren will gelernt sein. Damit ihre Teilnehmenden an einer Online-Diskussion teilnehmen können, schulten sie diese vorab. Wie vertritt man wirksam seinen Standpunkt, wie diskutiert man am besten miteinander – all das sind wichtige Bausteine für eine gesellschaftliche Teilhabe. „Haltung zu einem Thema entwickeln und diesen auch zu vertreten, darum ging es in unserer Standpunktschulung“, sagt Selia. Schulung und Diskussionsrunde fanden auch per Zoom statt.
Selia sieht Vor- und Nachteile ihrer bisherigen digitalen Arbeit. Leute können von überall teilnehmen und müssen nicht erst anreisen. Das erleichtert die Teilhabe. Vor allem für die kürzeren Formate ist das hilfreich. Aktuell gehe es da um die Bundestagswahl. In einer digitalen Veranstaltung mit dem Titel „Deine Stimme zählt“ wollen sie Menschen mit internationaler Geschichte auf die Wahl aufmerksam machen. Außerdem wollen sie Tools vorstellen, mit denen die Teilnehmenden herausfinden können, welche Partei ihre Interessen am besten entspricht.
Raus aus der Komfortzone
Für Seminare aber, die ein Wochenende dauern und bei denen die Menschen sich kennen lernen sollen, sei es besser, „wenn man sich sieht“, sagt Selia. Gerade bei Einheiten, in denen es auch darum geht, aus der eigenen Komfort-Zone herauszukommen und mutig zu sein. Bei den Rhetorik-Schulungen ist es einfach wichtig, ein Publikum zu haben. Das Auswertungsseminar für die „Civic Ideas Factory“ soll dann in Präsenz stattfinden.
Auch für Vernetzungstreffen ist das Onlineformat praktisch. Beispielsweise saßen sie digital mit Vertretern von Stellen zusammen, die Freiwilligendienste anbieten. Dabei ging es darum, wie man mehr junge Menschen mit internationaler Geschichte für solch einen Dienst begeistern könnte. „Wir sprachen darüber, wie man migrantische Communities erreicht und gleichzeitig Barrieren abbaut“, sagt Selia.
Und Barrieren abzubauen – das ist ihre Mission.
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell 4.0 International Lizenz.