Ich habe mich für die Rolle von Melina entschieden. Sie ist circa 40 Jahre alt, Mutter von fünf Kindern und kennt das Leben in Kenia und in Deutschland. Als Melina fahre ich in einem Bus des ÖPNV. Ich habe einen Kinderwagen bei mir und einen kleinen Jungen. Er ist vielleicht fünf Jahre alt. Der Bus ist voll. Ein Mann steht mit seinen Koffern genau an der Stelle, an der ich den Kinderwagen sicher hätte parken könnte. So stehe ich etwas mittiger im Gang. Der Bus hält, eine Frau steigt in den Bus. Sie sieht mich und meine missliche Positionierung und fängt sofort an zu schimpfen. Dass ich kein Benehmen hätte. Dass das ja typisch sei, für eine Frau aus Afrika, die nur Kinder in die Welt setzen könne. Sie ist von null auf hundert, in ein paar Sekunden. Und ich – als Melina – bin mit rassistischen Stereotypen konfrontiert.
Ich weiß, dass das gerade keine Realität ist. Es ist ein animiertes Rollenspiel, an dem ich per VR-Brille teilnehme. Trotzdem geht mir diese digitale Erfahrung ziemlich nahe. Auch weil ich weiß, dass diese Simulation einer echten Situation nachempfunden worden ist. Keiner in dem Bus sagt etwas, um mich zu unterstützen. Der Busfahrer ruft nach hinten, dass wir jetzt ruhig sein sollen, sonst schmeiße er uns beide raus. Der Junge, mein Sohn, fragt mich, warum die Frau so böse ist. Ich höre Melinas Stimme, die ruhig und besonnen antwortet. Ich bewundere sie dafür. Gleichzeitig höre ich auch ihre Hilflosigkeit. Die Frau schimpft einfach weiter, hört gar nicht mehr auf. Ich muss kurz die VR-Brille absetzen.
Es geht um den Perspektivwechsel, den wir mit unserer Arbeit ganz praktisch vermitteln wollen. Denn nur so gibt es ein besseres Verständnis für die andere Seite.
Julia Halm / Projektkoordinatorin BrückenBauen
Brücken bauen zwischen den Kulturen
Die Virtual Reality-Brille gehört zum Projekt AugenBLICK Mal! von BrückenBauen gUG, einem Social Impact Unternehmen aus München. Dieses führt Coachings, Workshops und Ausstellungen durch und beschäftigt sich darin mit den Themen Integration, Anti-Rassismus und Diversity. Der besondere Ansatz ist, dass Menschen mit den unterschiedlichsten Erfahrungen und Hintergründen Teil dieser Workshops sind. Als extra dazu ausgebildete Kulturmoderator:innen werden sie in die Lage gebracht, eben diese Workshops und Bildungsangebote zu moderieren und zu konzipieren.
Konzipiert haben Kulturmoderator:innen mit Zuwanderungserfahrung beispielsweise eine Wanderausstellung. Diese heißt „Land der Kulturen“ und funktioniert mithilfe interaktiver Simulationen, die hintereinander als Parcours angelegt sind. So werden Besuchende in eine ähnliche Lage versetzt, die Neuzugewanderte erleben, wie sie neu im Land sind. Eine Aufgabe beispielsweise ist es, sich mithilfe eines U-Bahnplanes von Berlin von einem Ort zum nächsten zu bewegen. Doch alle Namen und auch die des Startes und des Ziels sind auf Arabisch geschrieben. Sich hier zurecht zu finden, überhaupt erst einmal herauszufinden, wo man ist und wohin man muss, ist gar nicht so einfach.
Die Kulturmoderator:innen beantworten währenddessen Fragen und erzählen von ihren eigenen Erfahrungen, die sie sammelten, als sie selber neu im Lande waren. „Dieser Perspektivwechsel hilft auch Vorurteilen zu begegnen. Wer sich beispielsweise erst einmal komplett neu orientieren muss, dem alles fremd ist, der braucht einfach mehr Zeit als andere“, erklärt Julia.
Ich setze die VR-Brille wieder auf. Sofort bin ich zurück im Bus. Die Frau spricht jetzt andere Menschen an, wie unmöglich ich – also Melina – sei. Sie scheint Verbündete gegen mich zu suchen. Mir steht niemand zur Seite. Ich hätte die gesamte Szene auch aus einer anderen Perspektive erleben können: als unbeteiligter Zuschauer, aber auch aus der Sicht der aggressiven Frau. Die Szene endet ungelöst.
Emotionale Auswertung im digitalen Seminarraum
Nach der Simulation kehre ich in einen virtuellen Seminarraum zurück. Hier erscheine ich mit einem virtuellen Körper – meinem Avatar, den ich mir vorher in einem Art Ankleidezimmer erstellen konnte. Ich hätte mir zum Beispiel eine blaue Hautfarbe aussuchen können und lange Haare, wenn ich gewollt hätte. Mit diesem Körper kann mich im Seminarraum hin und her bewegen, kann mich mit anderen Teilnehmerinnen unterhalten. Außerdem gibt es die Möglichkeit, Umfragen zu erstellen, indem man sich als Avatar auf das entsprechende Feld stellt.
„AugenBLICK Mal! richtet sich an Schulklassen, aber auch an Unternehmen und Behörden“, sagt Julia. 12 dieser Brillen gibt es für insgesamt 12 Teilnehmende. Wäre dies jetzt ein richtiges Seminar würde Melina dazu kommen und Fragen beantworten. Sie würde mit den Teilnehmende darüber sprechen, wie es ihnen ergangen ist, was sie gefühlt und gedacht haben, als sie in der Bussimulation waren. Das kann durchaus sehr emotional werden, vor allem wenn Menschen dabei sind, die so etwas selber schon einmal erlebt haben.
Vor der Simulation im Bus konnten die Teilnehmenden VR-Videos sehen, in denen Melina ihr Zuhause zeigt oder darüber spricht, wie es ist in Kenia und in Deutschland Lebenserfahrung gesammelt zu haben. Es ist, als ob man wirklich in ihrem Wohnzimmer steht, wirklich an ihrem Tisch sitzt. Dadurch wird sofort Nähe hergestellt. Virtual Reality ist zwar eine künstliche Welt, die Gefühle aber sind echt.
Mehr Empathie durch VR
Bei der technischen Umsetzung der Simulation hat eine VR-Firma geholfen. Die Szenen wurden vor der Kamera eingespielt, dabei hatten die einzelnen Beteiligten einen speziellen Anzug an, mit dem die Bewegungen der Körper aufgezeichnet wurden. Aus diesen Bewegungen und den Texten haben sie dann die künstliche Welt erstellt. Grafisch ist alles sehr einfach gehalten. Das macht aber überhaupt nichts, da durch die VR-Erfahrung die Situation dennoch unter die Haut geht.
Tatsächlich kann die Erfahrung der VR-Brille Menschen noch stärker in eine Situation hineinversetzen. Durch dieses Erleben wird auch die Empathie verstärkt, weil man auf einmal selber derjenige ist, der in dieser Situation steckt
Julia Halm / Projektkoordinatorin BrückenBauen
Eine Reihe von Universitäten und Wissenschaftler:innen untersuchen im Moment den Zusammenhang zwischen Empathie und Gefühlen und Erlebnissen mit VR-Brillen. In einem Experiment erleben Straftäter:innen Situationen aus Sicht der Opfer. Die Rückfallquote ist seitdem gesunken. In einem anderen Versuch tauscht man mit einem Partner oder einer Partnerin die Körper und sieht sich aus der jeweils anderen Perspektive. VR-Brillen werden aber auch zu Trainingszwecken eingesetzt: So kann die Polizei Bürger:innenähe oder deeskalierendes Verhalten üben.
„Das Tolle an den Brillen ist, dass sie überall benutzt werden können“, sagt Julia. Schüler:innen können im selben Klassenraum stehen oder jede:r bei sich zuhause sein. Je nachdem wie es die Situation erfordert, können die VR-Brillen auch der zuständigen Lehrkraft zugesendet werden, die diese dann weiterverteilt. Aber auch Veranstaltende können die Brillen für Vor-Ort-Workshops anfordern – und Teamleiter:innen für ihre Mitarbeitenden.
Ganz einfach, ganz unkompliziert – probiert es doch auch mal aus.
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