Wer in die Online-Suche großer Buchhandlungen das Schlagwort „New Work“ eingibt, wird schier erschlagen von der Fülle der Ergebnisse. Unzählige Titel beschreiben eine Arbeitswelt, die modern und innovativ ist, fluide und agil, menschlich und digital gleichermaßen. Überhaupt ist das neue Arbeiten in aller Munde, gepusht von Umfragen unter Beschäftigten, die zu großen Teilen aus den Zumutungen der Corona-Zeit als positiven Aspekt mitgenommen haben, dass vieles sich auch gut vom heimischen Schreibtisch aus erledigen lässt. Un das die so lange glorifizierte Präsenzkultur, wonach derjenige sich vermeintlich am meisten in den Job hängt, der nur am längsten im Büro ist, in vielen Unternehmen und Organisationen an ihr wohlverdientes Ende gekommen ist.
Doch ist das schon diese neue Arbeitswelt? Dass wir einfach alle komplett oder zum Teil im Home Office arbeiten, mit Kolleg:innen über Messenger und Arbeitsplattformen kommunizieren? Wenn es doch so simpel wäre. Denn die Wirklichkeit ist deutlich komplizierter – und sie erfordert nicht nur den Umbau von Büros und Arbeitsplätzen, sondern den ganzer Mindsets und Wertesysteme. Das ist anstrengend; verspricht jenen, die sich darauf einlassen, aber eine Arbeitswelt, in der der Faktor Mensch deutlich mehr mitgedacht und einbezogen wird als bisher.
„Eigentlich wollte ich chillen und reisen, aber dann hat Joana mich gefragt, ob ich sie nicht dabei begleiten wolle, sich als Chefin abzuschaffen.“
Die Abschaffung der Chefs
Einen faszinierenden Einblick in das, was möglich und dafür nötig ist, gewährt Bettina Rollow. Sie arbeitet schon seit Jahren an einer nachhaltigen Transformation der Arbeitswelt und hat dazu gemeinsam mit Joana Breidenbach das Buch „New Work needs inner Work“ geschrieben. Das ist Analyse und Arbeitsbericht gleichermaßen, denn es ist eine reflektierte Rückschau auf die gezielte Arbeit an dieser „neuen Arbeit“, die die beiden Autor:innen zum Erscheinungsdatum 2019 bereits fünf Jahre lang vorangetrieben hatten.
Dabei hatte Bettina Rollow eigentlich ganz andere Pläne: Die Organisationsentwicklerin hatte damals gerade aus freien Stücken ihren Job in der Automobilindustrie aufgegeben. „Eigentlich wollte ich chillen und reisen“, erinnert sie sich, „aber dann hat Joana mich gefragt, ob ich sie nicht dabei begleiten wolle, sich als Chefin abzuschaffen.“ Breidenbach ist die Gründerin von Betterplace, einer Berliner Spendenplattform und eines Think Tanks, die es sich zum Ziel gesetzt haben, Menschen und Unternehmen, die helfend tätig werden wollen, mit anderen zusammenzubringen, die Hilfe benötigen.
Gemeinsam mit Gründerin Breidenbach formte Bettina das betterplace lab um. Die Reise führte zu einer neuen Unternehmenskultur mit flachen Hierarchien, kompetenzbasierter Führung und Mitarbeitenden, die sich selbst organisieren und strukturieren. Sie habe die Strukturen von Unternehmen immer extrem spannend gefunden, sagt Bettina. „Mir hat das immer sehr viel Freude gemacht, Systeme zu erfassen und zu überlegen, wie eine Organisation, die ja quasi ein lebendiges Wesen ist, mit all ihren Rollen, Aufgaben und Interaktionen, idealerweise Komplexität in Simplizität verwandelt.“
Flache Hierachien
Das klingt kompliziert – und ist es auch. Denn auch wenn flache Hierarchien und neue Organisationsformen in aller Munde sind: Sie sind nicht einfach von heute auf morgen zu implementieren. Bettina weiß, wie groß die Anstrengungen sind, die diese Transformation allen Beteiligten abverlangt: „Wenn Unternehmen den Spielraum für Individuen vergrößern wollen und ihnen mehr Freiraum und Verantwortung geben, dann braucht es einen großen Kompetenzaufbau. Das ist ein Prozess der menschlichen Reifung.“ Und es ist der Prozess, sich mit gängigen Missverständnissen auseinanderzusetzen: Denn Selbstorganisation sei kompetenzbasiert und dürfe nicht mit Basisdemokratie oder Konsensus verwechselt werden, so die Berlinerin.
Auch wenn es gerade angesagt und hipp sei, Führung ohne Chef:innen anzustreben, gebe es immer wieder auch Teams, „die feststellen, dass sie mit festen Hierarchien und Chefs am besten und produktivsten arbeiten“. Die seien reifer und präziser als solche, „die den Chef um jeden Preis abschaffen wollen, dafür aber nicht die notwendigen Fähigkeiten haben“. Genauso gebe es Führungspersonen, die mit den Begriffen von Selbstorganisation und New Work liebäugeln würden – aber nicht, weil sie davon überzeugt seien, sondern weil ihnen so ein als unangenehm empfundener Teil der Arbeit abgenommen werde. Bettina ist hier ganz klar: „Führung und Macht können nur dann abgegeben werden, wenn sie vorher wirklich angenommen wurden.“ New Work sei daher nicht die Lösung für Führungskräfte, denen es eigentlich im Inneren widerstrebe, zu führen.
Mehr als Kickertisch und Bürohund
Bei einer wirklich wirksamen Transformation müsse allen Beteiligten klar sein, „dass unsere innere Dimension – also Werte, Erfahrungen, Bedürfnisse oder unsere Kultur und Kommunikation in der Organisation – mit der äußeren Dimension – also unserem Verhalten und den genutzten Strukturen und Prozessen – verbunden ist. Diese beiden bedingen sich gegenseitig. Deshalb ist New Work auch eine große Herausforderung für viele Beschäftigte. Weil es nicht reicht, einfach neue Strukturen und Abläufe einzuführen und dem Unternehmen einfach eine neue Arbeitsweise überzustülpen.
Bettina ärgert sich darüber, dass New Work oft auf Kickertische, flexible Arbeitszeiten und den Bürohund reduziert wird. Das werde der zugrundeliegenden Idee einfach nicht gerecht. New Work, das beinhalte auch ein sehr hohes Kommunikationsniveau, um Konflikte und Regeln auszuhandeln, betont Bettina. „Und es braucht viel Vertrauen innerhalb der Teams und die Bereitschaft zur Reflektion. New Work setzt nicht hauptsächlich auf Strukturen und Prozesse, die optimiert werden können. Es erfordert auch eine Auseinandersetzung mit Haltungen, Perspektiven und persönlichem Erleben.“ Wenn es das Ziel sei, dass in den verschiedenen Arbeitsschritten unterschiedliche Personen mit jeweils anderen Kompetenzen die Führung übernehmen, müssten diese ihre eigenen Kompetenzen wirklich kennen.
Bettina bringt in diesem Feld einen besonderen Blick mit, der ihr hilft, Teams fundiert zu begleiten. Ihre Kompetenz speist sich nicht nur aus einem betriebswirtschaftlichen Studium, sondern auch aus einer Ausbildung zur psychologischen Beraterin und Heilpraktikerin für Psychologie und Erfahrungen in der Gestalttherapie. „Reines Eigeninteresse“, sagt sie dazu lachend, sie habe einfach in der Arbeit gemerkt, „dass meine Ausbildung für die Komplexität des Lebens nicht ausgereicht hat“.
Stabilität aus dem Inneren
Inzwischen teilt Bettina ihre Gedanken mit vielen anderen Interessierten. Als Teil der Inner Work Alliance und Mitbegründerin des Think Tanks Das Dach unterstützt sie all jene, die sich aufgemacht haben, unsere Arbeitskultur weiterzuentwickeln. Sie bietet Organisationsentwicklung als Beratung an. Neben den vielen Dingen, die sie in der Zeit der Pandemie als Belastung empfunden hat, haben die zurückliegenden Monate ihr aber auch Hoffnung für den Veränderungsprozess in der Arbeitswelt gegeben. Es sei „eine der einschneidendsten Erfahrungen“ der letzten Monate gewesen, „wie schnell und wirksam politische Maßnahmen unser gesamtes Leben und Wirtschaften verändern können“.
Nun brauche es aber zunächst einen Lernprozess, um mit den inneren Spannungen, die fast alle Menschen in der Corona-Zeit aufgebaut hätten, umgehen zu können. Bettina sagt, je unsicherer unsere äußere Welt sei, desto mehr müssen wir Stabilität und Orientierung in unserem Inneren finden. Das werde uns letztlich auf allen Ebenen stärken, sowohl privat sie auch im Job.
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