„Mit einer digitalen Struktur lässt sich unser Angebot neu denken“

„Never waste a good crisis”: Das ist während der Corona-Pandemie zum Motto der START-Stiftung geworden. Während des Lockdowns hat sie ihr Stipendienprogramm in den digitalen Raum verlagert. Was dort alles möglich ist und warum der Lockdown für diese Idee sogar ganz passend kam, darüber hat Imke Bredehöft von Kombüse mit dem Projektleiter START Campus Gregory Grund von der START-Stiftung gesprochen.

Man schaut einer Frau mit Headset im Jackett über die Schulter, sie blickt auf einen verschwommen zu erkennenen Bildschirm

START ist das einzige bundesweite Stipendienprogramm für Schülerinnen und Schüler in Deutschland. Über drei Jahre fördert und begleitet die START-Stiftung, eine Tochter der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, herausragende Jugendliche mit Einwanderungsgeschichte dabei, Verantwortung für eine lebendige Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu übernehmen. START ist Talentschmiede für außergewöhnliche junge Menschen, Startrampe für neue Initiativen und Lautsprecher für die Verteidigung freiheitlicher Werte. Gemeinsam mit Partnern aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft wird die Förderung umgesetzt. Aktuell werden von START rund 600 junge Menschen aus über 60 Herkunftsnationen gefördert.

Gregory Grund

Gregory Grund ist seit März 2020 Projektleiter START Campus bei der START-Stiftung. Davor hat der studierte Erziehungswissenschaftler das gemeinnützige Mentorenprogramm „Digitale Helden“ mitgegründet, das Schüler:innen zu digitalen Mentor:innen für jüngere Mitschüler:innen ausbildet. Ein wenig überraschend für seine Kolleg:innen: Der Digitalexperte ist in Meetings immer mit Papier und Stift ausgestattet. Für ihn sind das unersetzliche Hilfsmittel, um die eigenen Gedanken zu ordnen. Während der Pandemie hat aber auch er ein neues Tool für sich entdeckt: Tutorial Screen Recordings: „Gerade, wenn ich mit Kolleg:innen nicht im Büro sitze und versuche bestimmte Funktionen von START Campus zu erklären, ist ein schnelles Erklärvideo viel einfacher als alle Emails oder Telefonate dazu.“ (Foto: START Stiftung)

Imke: Erst einmal herzlichen Glückwunsch! Ihr habt dieses Jahr mit 3.500 Bewerber:innen auf das START-Stipendium eine Rekordzahl erreicht. Und das im Corona-Jahr. Bist du überrascht?

Gregory: Danke! Im Nachhinein bin ich eigentlich nicht überrascht. Die Bewerbungsphase war zwar mitten in der Pandemie, aber gerade durch die veränderten Rahmenbedingungen und wegen der Verlagerung unserer Kommunikation ins Digitale sind wir auf ganz neue Ideen gekommen. Statt die Zielgruppe direkt aufzurufen, sich zu bewerben, haben wir dieses Jahr erstmals zu einer „Info Hour“ auf Instagram eingeladen, bei der Interessierte aktuellen oder ehemaligen Stipendiat:innen Fragen stellen konnten. Diese niedrigschwelligen Angebote haben sehr gut funktioniert und, ich denke, letztendlich auch zu den hohen Bewerbungszahlen geführt. Auch für uns als Team war das ein schöner Erfolg, der uns gezeigt hat, dass es sich lohnt Neues zu probieren, sich weiterzuentwickeln.

Also habt ihr die Phase des Lockdowns zur Weiterentwicklung genutzt?

Ja! Nach einem ersten Ohnmachtsgefühl im März 2020, als der erste Lockdown kam und keiner wusste, für wie lange und wie es weitergeht, sind wir schnell ins Tun gekommen und haben uns damit beschäftigt, wie wir digital die Hand ausstrecken, die Jugendlichen zusammenbringen und ihnen in dieser, für sie ja auch schweren Zeit, Halt und Impulse geben können. Wir haben dann unser Bildungsprogramm weitestgehend ins Digitale verlagert, neue Methoden und Formate entwickelt und beispielsweise mit unserer Social Media Kampagne „Optimismus Oktober“ die besonderen Bedürfnisse der Jugendlichen adressiert.

Keine Frage: Digital dazugelernt haben wir wohl alle im Corona-Jahr. In unserer Artikelserie zu (digitalen) Pandemie-Spuren blickt Imke Bredehöft von der KOMBÜSE – Kommunikationsbüro für Social Entrepreneurship in die Praxis zivilgesellschaftlicher Organisationen während der Krise, fragt nach, wie sich ihre Wirkung auch digital entfalten ließ und welche digitalen Ansätze (auch über die Pandemie hinaus) gekommen sind um zu bleiben.

Welche neuen Methoden und Formate waren das?

Um im Kontakt mit unseren Stipendienjahrgängen zu bleiben, haben wir beispielsweise verschiedene Talk-Formate wie STARTXChange auf Instagram entwickelt. Und mit der Veranstaltungsreihe „START2Imagine“ in Kooperation mit der Zukunftswerft haben wir auch einen Piloten inhaltlicher Art gewagt: Die digitalen Workshops und Werkstätten waren nicht nur für unsere Stipendiat:innen geöffnet, sondern auch für andere Interessierte. Damit haben wir das erste Mal den exklusiven Rahmen unseres Stipendienprogramms gelockert. Mit dem Ergebnis, dass die dort entstandenen Diskussionen und Gespräche von unseren Stipendiat:innen als sehr befruchtend wahrgenommen wurden.

Eine Ausnahme nur während der Corona-Zeit oder wollt ihr euer Angebot auch weiterhin öffnen?

Bei digitalen Veranstaltungen entstehen für uns durch die Öffnung zumindest keine Kosten on top. Ob wir in der Videokonferenz mit 50 oder mit 100 Leuten sitzen, ist für das Budget egal, aber wir haben doppelt so viele Jugendliche inspirieren und bestärken können, sich zu engagieren. Sofern der Mehrwert für unsere Stipendiat:innen durch die Öffnung einzelner Veranstaltungen oder Formate nicht beeinträchtigt ist, ist ein solches Mehr an Wirkung natürlich nur zu begrüßen. Deshalb lässt uns dieser Gedanke auch nicht mehr los und ist auch eine Perspektive für unseren neuen START Campus.

Bild: START-Stiftung

START Campus, das Projekt, das du gerade ansprichst, ist quasi dein „Baby“. Was genau ist das?

START Campus ist eine Lernplattform, die für unseren neuen Jahrgang seit diesem Sommer erstmals zur Verfügung steht. Es ist quasi das digitale Zuhause unserer START Community. Mit dem eigenen Account haben die Nutzer:innen Zugang zu ihrer individualisierten Terminübersicht, aber vor allem können sie mit anderen aus der Community in Austausch kommen. Es gibt thematische und regionale Gruppenräume und Chatkanäle. Videokonferenzen können über die Plattform gemacht werden, digitale Whiteboards stehen zur Verfügung und Dokumente können abgelegt werden. Es eine Lernplattform, aber vor allem ein Werkzeug für kollaboratives Lernen und Arbeiten.

Habt ihr diese Plattform in Eigenregie entwickelt?

Nein, wir haben die Plattform zusammen mit dem Sozialunternehmen Kiron entwickelt. Kiron hat sich 2015 mit der Mission gegründet, Hochschulbildung oder Bildung bereitzustellen für Menschen, die auf der Flucht sind oder in Lebensumständen ohne Infrastruktur für Bildung leben. Weil der Bedarf, Bildung auch ins Digitale zu überführen, aber immer mehr wächst, entwickelt Kiron inzwischen auch sogenannte WhiteLabel-Lösungen: Also Kopien ihrer Plattform, die sie visuell und funktionell auf die Bedürfnisse anderer Organisationen anpassen. Für uns hat Kiron eine Plattform programmiert, die genau die Funktionen erfüllt, die wir für unser Angebot brauchen. Während ihre eigene Plattform beispielsweise mehr auf Einzellernende abgestimmt ist, haben wir Kiron gebeten, bei uns viel mehr kollaborative Tools einzubauen.

Ist START Campus auch eine Reaktion auf die Corona-Zeit?

Unser Motto des letzten Jahres war: Never waste a good crisis. Bei START gab es schon vor der Pandemie die grundsätzliche Haltung, dass wir dem Digitalen mehr Raum geben wollen. Erstens, um unser Bildungsprogramm zeitgemäßer zu machen und zweitens, um unseren Wirkungsgrad neu auszuloten. Wenn wir den Anspruch haben, Jugendliche zu empowern, sich Gehör zu verschaffen, mit anderen in Austausch zu treten, dann impliziert das im Jahr 2021 einfach auch Medienkompetenz. Wir haben die Krise genutzt, um diese Erkenntnis mit Leben zu füllen. START Campus ist deshalb keine Notwehrreaktion auf Corona, aber die Phase des Lockdowns hat den Prozess massiv aufgeladen und beschleunigt. Ich glaube auch, dass die Offenheit für digitale Formate auf allen Seiten im Team und bei den Stipendiat:innen gestiegen ist. Wir alle haben jetzt erfahren, was digital alles möglich ist, was vielleicht sogar besser geht.  

Was funktioniert deiner Meinung nach jetzt besser?

Bisher war mit Veranstaltungen verbunden, Räume zu buchen. Jetzt haben wir aber die Möglichkeiten, den Raum jederzeit zu buchen, weil er digital ist. Dadurch können wir viel spontaner auf Bedarfe reagieren und Themenwünsche aus der Community aufnehmen. Wir schauen dann, ob wir dazu in unserem Netzwerk Impulsgeber:innen haben, setzen einen Termin fest und zwei Wochen später läuft das Ding mit 70 Leuten. Eine ganz neue Dynamik. Ich denke, durch die digitalen Strukturen können wir noch dialogischer und anlassbezogener wirken.

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Außerdem bringen die neuen Strukturen auch eine Erleichterung fürs Team. Manche wiederkehrenden Tätigkeiten, die aber von einer schwachen Beziehungsqualität sind, wie zum Beispiel Terminerinnerungen, können durch automatisierte Prozesse ersetzt werden und schaufeln Zeit frei, die an anderer Stelle besser investiert ist.

Welche Vorteile erhoffst du dir durch START Campus für eure Stipendiat:innen?

Jugendliche haben heute ein ganz anderes Selbstverständnis und anderen Anspruch an Community und Erreichbarkeit. Wir haben es hier mit jungen Menschen zu tun, die nach der Schule ihre Stadt verlassen, vielleicht ins Ausland gehen. Was wir mit START Campus jetzt anbieten können, ist eine Community auf Lebenszeit – egal wo du bist.

Darüber hinaus soll START Campus nicht nur eine Lernplattform, sondern auch ein Freiraum sein, in dem sich unsere engagierten Stipendiat:innen abseits der START Veranstaltungen selbst organisieren, miteinander diskutieren oder in Gruppen an einem Projekt arbeiten können. Die Jugendlichen haben sich natürlich auch schon vorher vernetzt: WhatsApp-Gruppen gegründet, E-Mails geschrieben, Dokumente bei Google Docs abgelegt. Alle diese Funktionalitäten können wir mit START Campus aber datenschutzkonformer und auch visuell zusammengehörig anbieten. Wir geben den Stipendiat:innen damit ein Werkzeug in die Hand, ihre unterschiedlichen Potenziale zu organisieren und ihr Engagement noch selbstständiger in die Hand zu nehmen.

Wie sieht es mit der Ausstattung aus? Sicherlich haben nicht alle Stipendiat:innen die gleichen Voraussetzungen zur digitalen Teilhabe.

Das ist ein wichtiger Punkt! Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir in Deutschland eine extreme Ungerechtigkeit und Ungleichheit haben, was die Basisausstattung für digitales Lernen angeht. Deshalb haben wir entschieden, die Hardware-Ausstattung, die bereits Teil unseres Stipendiums ist, massiv zu erhöhen. Eigentlich erhalten unsere Stipendiat:innen einen Mix aus Laptop und Tablet. Die Idee: Etwas Kompaktes und Leichtes zur Mitnahme zu Präsenzveranstaltungen. Da wir dieses Jahr aber einen deutlich höheren digitalen Anteil im Programm haben, müssen wir eben auch entsprechende Geräte zur Verfügung stellen, die leistungsstark genug sind für Videokonferenzen. Unser Ressourceneinsatz für die Hardware-Ausstattung verdoppelt sich damit, aber aus der Wirkungslogik heraus ist das notwendig: Wer digital anbieten will und erwartet, dass es genutzt wird, muss überhaupt erst die Basis dafür schaffen.

Was passiert mit den Präsenzveranstaltungen?

Die wird es weiter geben, auf jeden Fall! Das Stiften von Begegnungen ist weiter unser Kern. Es geht nicht darum Sachen zu ersetzen, sondern sie einfacher zu machen und sie durch die Verbindung der analogen und digitalen Welt qualitativ noch zu verbessern. Wir nähern uns da einem Blended Learning Konzept. Für ein Präsenzseminar laden wir auf START Campus zur Vorbereitung Videos und Leitfragen hoch. Bei der kostbaren Präsenzzeit muss der Dozent dann weniger vermittelnd agieren, sondern kann direkt in die Diskussion und in den Transfer gehen. Im Nachgang gibt es die Möglichkeit, Diskussionsfäden des Seminars digital weiter aufzunehmen und zum Thema im Gespräch zu bleiben.

Welche Pläne verbindest du noch mit START Campus?

Jetzt wünsche ich mir erst einmal einen guten Launch. Die Stipendiat:innen des neuen Jahrgangs, der seit diesem Sommer Teil der START Community ist, sind die ersten, die den Campus nutzen. Bald öffnen wir den Campus auch schrittweise für andere Jahrgänge und unsere Ehemaligen. Diese Schritte wollen wir ganz behutsam umsetzen, Erfahrungen sammeln, wie die Nutzergruppen das Angebot annehmen. Diese ersten Wochen und Monate werden wichtige Erkenntnisse für uns bringen!

Unter dem Schlagwort ‚Open Campus‘ denken wir aber auch schon weiter. Wir überlegen, wie wir unser Angebot auch für andere Interessierte öffnen können. Zum Beispiel für alle, die sich auf unser Programm beworben haben, aber denen wir nicht allen einen Platz anbieten können. Im letzten Jahr waren das 9/10 aller Bewerbungen, über 3.000 Jugendliche. Bislang war es das dann und wir haben keinen weiteren Kontakt mehr. Langfristig möchten wir allen, die sich bei uns bewerben, einen Account zum Open Campus bieten, mit Zugang zu einem kleinen Teil des Angebots aus dem Bildungsprogramm. Dadurch könnten wir allen etwas an die Hand geben und sie dadurch auch motiviert halten. Das ist noch Zukunftsmusik. Aber eines ist klar: Mit einer digitalen Struktur lässt sich unser Angebot neu denken.

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Glühbirne

Checkbox: Digitale Lernplattform

Neue digitale Strukturen, die Verlagerung oder Ergänzung des eigenen Bildungsangebots in den digitalen Raum ist für viele Organisationen ein großer Schritt. Damit dieser Schritt gut gelingt, ist es wichtig, von Anfang an alle Nutzer:innen in die Entwicklung einzubeziehen. Fünf Tipps von Gregory Grund, wie das gut gelingen kann: 

1. Nehmt euch Zeit!
Auch wenn die technische Umsetzung schneller möglich ist, lohnt es sich Zeit zu investieren, das gesamte Team (auch die Verwaltung!) in den Entwicklungsprozess einzubeziehen.

2. Keine Top-Down Entscheidungen!
Neue digitale Strukturen bedeuten für die Mitarbeitenden oft eine Umstellung ihrer Arbeitsroutinen. Je mehr sie bei der Entwicklung mitdenken dürfen, desto offener sind sie, die neuen Werkzeuge auch zu nutzen.

3. Mut zur Ergebnisoffenheit!
In jedem Team gibt es eine unglaubliche Spannbreite an Kompetenzen und Bedürfnissen. Gebt allen die Möglichkeit, eigene Ideen und Visionen zu entwickeln, wie die digitalen Strukturen den Arbeitsalltag und die Aufgabenerfüllung verbessern können. Nicht selten werden erst so die wichtigsten Funktionen identifiziert.

4. Einbindung nicht nur am Anfang!
Gründet eine Arbeitsgruppe mit Teammitgliedern aus den unterschiedlichsten Bereichen der Organisation. So könnt ihr auch bei den weiteren Entwicklungsschritten alle Perspektiven berücksichtigen (Die Campusgang erfüllt bei uns diesen Zweck).

5. Fragt die Nutzer:innen!
Institutionalisiert den Dialog mit euren Zielgruppen (bei uns ist das der Campus Rat). Holt euch Feedback, Wünsche und Ideen auch von eurer Zielgruppe oder fragt sie, wenn bestimmte Entscheidungen für oder gegen eine Funktion getroffen werden. Sie wissen am besten, was sie brauchen.

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Weitere Informationen unter www.start-stiftung.de.

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